Wikipedia)
Bei der obigen Quelle in Wikipedia ist eine umfassende und detailierte
Beschreibung dieser Szene zu finden.
"Verkündigung und
Heimsuchung
Hauptthema der gesamten Anlage ist die Parusie, die zweite irdische Erscheinung
Christi als Richter des Jüngsten Gerichts. Die untere Partie des rechten
Gewändes: links und rechts jeweils die Zweiergruppen der Verkündigung und der
Heimsuchung, also zwei Szenen vor der Geburt Christi. Das sind typische Themen
an den Portalen, die später in der Gotik ebenfalls verwendet werden. Hier haben
wir die gleichen erregt überlängten Figuren wie im Tympanon. Deutlich ist zu
erkennen, dass -wie immer bei großen Portalanlagen- nicht nur ein Künstler
verantwortlich ist, sondern mehrere. Die rechte Gruppe der
"Heimsuchung" ist deutlich bewegter und elegant-fließender gestaltet
als die eher statische Gruppe links. Auch die Gewandfaltung ist deutlich
unterschieden.
Anbetung
Die beiden kleineren Szenen, die sich im selben Bogenfeld darüber befinden,
beziehen sich deutlich aufeinander, gehören eigentlich zusammen, werden aber
durch die Säule getrennt. Beide bilden die altbekannte "Anbetung":
links die drei Weisen aus dem Morgenland, rechts Maria mit dem Kind. Diese
Szene wird auch als die erste Parusie Christi bezeichnet, sein erstes
Erscheinen auf Erden als menschliches Wesen im Gegensatz zur zweiten Parusie
nach seinem Tod als Richter des Jüngsten Gerichts.
Flucht nach Ägypten und Darstellung im Tempel
Der schmale Steifen über dem doppelten Bogenfeld zeigt drei verschiedene
Szenen. Ganz links ist die Stadt Sotine und der Sturz der Idole dargestellt,
eine mittlerweile kaum mehr bekannte Geschichte, dann die Flucht nach Ägypten
im Zentrum und rechts die Darstellung im Tempel in einem unglaublich gut
erhaltenen Zustand, vor allem, wenn man diese Szene mit dem heutigen Aussehen
der Großplastiken darunter vergleicht. Sämtliche Gewandfalten, alle
Bewegungsgesten und Gesichter dieser Gruppe sind seit 1120 unbeschädigt
geblieben. Man könnte den dunklen Verdacht hegen, dass diese Tafel nicht immer
hier angebracht war, sonst wäre wohl kaum ausgerechnet der Teil am besten
erhalten, der dem Regen am stärksten ausgesetzt ist."
Auch für das linke Gewänd führt die Quelle eine umfangreiche Beschreibung an.
"Geiz/Habsucht
Die Zweiergruppen auf der anderen Gewändeseite lassen schon eher erkennen, dass
sie vor nunmehr knapp 900 Jahren angefertigt wurden. Ihr vergleichsweise
schlechter Erhaltungszustand hat nichts damit zu tun, dass hier die Sünden und
Laster dargestellt sind. Hier sieht man eine von einem kleinen Teufel wortwörtlich
besessene Figur, die den Geiz oder die Habsucht, die avaritia darstellt.
Völlerei
Die berühmte rechte Zweiergruppe stellt eine andere der sieben Todsünden dar,
die Völlerei, die Luxuria. Von den beiden Figuren weist die teufelsähnliche
Gestalt links einen prallgefüllten Bauch auf, darüber aber die bloßen Rippen,
die an ein Skelett erinnern und darauf hinweisen sollen, dass auch der im Luxus
Lebende dem Tode geweiht ist. Bei der weiblichen Gestalt rechts hat der
Bildhauer zu einem ähnlich drastischen Motiv gegriffen. Hier gehen die Brüste
nach unten in Schlangen über, die sich gegen den eigenen Körper wenden. Eine
Kröte greift ihr Geschlechtsteil an. Hier wird also nicht nur gegen die
Völlerei, sondern auch gegen die Sexuallust gewettert.
Stolz, Habsucht, Unkeuschheit und die gesellschaftlichen Veränderungen des
beginnenden 12. Jahrhunderts
Diese unmittelbare Verbindung von Habsucht und Unkeuschheit auf dieser
Gewändeseite, die in vielen romanischen Bildprogrammen Südfrankreichs
verbreitet ist, ist auch ein Ausdruck zeitgenössischer gesellschaftlicher
Veränderungen. Das was jetzt als Quelle allen Übels die Habsucht ist, war
vorher einmal das Laster des Stolzes. Stolz war aber nicht mehr zeitgemäß, wohl
aber die Habsucht. Was hat sich hier historisch verändert?
Etwas kurz gefasst ist Stolz eine Haltung sich selbst gegenüber, Habsucht aber
eine Handlung, die auf andere übergreift. Hier wird eine neu entstandene und
wachsende Schicht der Gesellschaft angegriffen, die gerade durch die Ansammlung
materieller Mittel - durch Geldverleih, Warenproduktion und Handel - als
städtische Bürgerklasse sich zu etablieren im Begriff steht. ...
Die großen damals neuen gotischen Kathedralen, die immens teuer waren, waren
überhaupt nur deswegen finanzierbar, weil der traditionelle Warenverkehr und
das feudal-persönliche Verhältnis auf dem Land durch den neuen Geldhandel in
der Stadt allmählich ersetzt wurde. Und diejenigen Gesellschaftsschichten, die
den Geldhandel kontrollierten, wurden jetzt zu Beginn des 12. Jahrhunderts
reich und sie werden hier in Gestalt der Habsucht an der Seite des Luxus
symptomatisch verdammt – sicher von Leuten, die wesentlich weniger Geld hatten.
(Toman, Rolf (Hrsg.): Die Kunst der Romanik. Architektur - Skulptur - Malerei.
Köln 1996, S. 344)
Aber nicht nur das: hier äußert sich das Unbehagen an einer großen
gesellschaftlichen Veränderung. Durch den neuen Geldverkehr wurde der Einzelne
von seiner Verpflichtung aus feudaler Abhängigkeit zunehmend befreit, da er
immer häufiger bezahlen konnte, was er zuvor durch persönlichen Dienst zu
erbringen hatte. Und die Unkeuschheit – diese Figur rechts - wurde in diesem
Zusammenhang verstanden als die sinnliche Seite dieses ökonomischen
Gewinnstrebens, als eine unerhörte neue Freiheit des Individuums, die die
Menschen dem Einflussbereich der Kirche tendenziell entzieht, die zugleich auch
die religiösen und moralischen Grundlagen des frühmittelalterlichen Feudalismus
in Frage stellt.
So gesehen gehört dieses Reliefprogramm in Moissac weniger einer allgemeinen religiösen
Anklage gegen die dort dargestellten Laster an, vielmehr entäußert sich in ihm
ein klerikal gesteuerter Widerstand gegenüber einer immer stärker werdenden
historischen Veränderung der mittelalterlichen Gesellschaft. Man kann solche
Reliefs also auch in anderen als rein künstlerischen-formalen Zusammenhängen
sehen.
Die Hölle und der Tod des Geizigen
Die oberen kleinen Szenen - noch innerhalb des Rundbogens - sind links die
leider schwer beschädigte Darstellung der Hölle und rechts daneben - besser
erhalten - der Tod des Geizigen. Der Leichnam des Geizigen liegt in einem
plastisch sorgfältig dargestellten Bett, während zu seinen Füßen ein Teufel mit
seinem Sack voll Geld abzieht als Hinweis darauf, dass man Geld nicht über den
Tod hinaus behalten kann – wenn man bedenkt, was gerade gesagt wurde über die
Entstehung der neuen Besitzschichten. Hier argumentiert die Kirche also
sinngemäß, dass ihr Einflussbereich über den Tod hinausgeht, der des Geldes
aber nicht. Vor dem Bett kniet wahrscheinlich die Gattin, die dünn und
ausgemergelt aussieht, weil der Geizige sie zu Lebzeiten nicht ausreichend
ernährt hat, - sondern sein Geld wahrscheinlich mit anderen Weibern
durchgebracht hat, siehe die Luxuria unten. Aber all sein Kapital hat ihn nicht
davor bewahren können, nach dem Tod in die Hölle fahren zu müssen. Seine Seele,
die gerade sinnbildlich aus seinem Mund heraus will, wird sofort von einem
Teufel ergriffen, bevor der schwebende Engel rettend eingreifen kann.
Geschichte des Lazarus
Die Relieftafel darüber führt in etwa das Thema des Geizes weiter, indem die
Geschichte des Lazarus erzählt wird. Ganz rechts ist die Szene des Gastmahls
des Reichen in Gegensatz gesetzt zum Tod des Lazarus in der Mitte. Die Szene
ganz links zeigt Lazarus in Abrahams Schoß, wie es der Gleichniserzählung von
Jesus entspricht aus dem 16. Kapitel des Lukas-Evangeliums, auf das sich diese
Darstellung bezieht."
"Damit ist das plastische
Programm dieser Portalanlage aber noch nicht erschöpft. Der Pfeiler in der
Mitte, der sogenannte Trumeaupfeiler, der das große Tympanon stützt, ist
vielschichtig mit ausdrucksgesteigerten Gestalten regelrecht umzogen. ...
Auf der anderen Seite des Portals steht der Prophet Jeremias. In ihm kann man
unschwer das lang gestreckte Vorbild für den berühmten Jesaias von Souillac
erkennen. Obwohl diese ganzen Gestalten verhältnismäßig flach sind und der
Kontur des Trumeaupfeilers angepasst, offenbaren diese Propheten doch in ihrer
lebhaften Bewegung das Gefühl innerer Erregung wie beim darüber liegenden
Tympanon. Mit äußerster Sorgfalt hat der Bildhauer nicht nur ein absolut neues
Motiv in die Geschichte der Plastik eingebracht, sondern auch gleich einen
Höhepunkt in der künstlerischen Technik erreicht."
Bei Nacht ist das Portal wunderbar ausgeleuchtet und auch dann sehr
eindrucksvoll.
"Der Kreuzgang von Moissac
ist neben der Portalanlage die zweite künstlerische Attraktion. Er hat
gewaltige Ausmaße und erinnert allein schon mit seiner Größe an die ehemalige
Bedeutung dieser Abtei. Mit seinen zehn Marmorreliefs an den Eckpfeilern und
seinen ehemals 88 Kapitellen ist er nicht nur einer der umfassendsten, ältesten
und schönsten in Frankreich, sondern zugleich der größte und am reichsten ausgestattete
Kreuzgang der gesamten Romanik.
Er wurde zwischen 1059-1131
errichtet, ist also wesentlich älter als das Portal. Insgesamt kann man hier 76
erhaltene Kapitelle und zehn Großreliefs besichtigen. Eine in sich geschlossene
Thematik ist dabei nicht ablesbar - die dargestellten Themen sind im Gegenteil
sehr vielschichtig. Außerdem wurde beim Wiederaufbau des Kreuzgangs im 13.
Jahrhundert nach der Zerstörung 1212 die ursprüngliche Anordnung nicht
beibehalten.
Die Kapitelle der Säulen enthalten
ganze Enzykolpädien von Szenen und Figuren des Alten und des Neuen Testanebts
sowie den Taten und Leiden der Heiligen - und sie waren, soviel wir wissen,
zumindest teilweise farbig." (Quelle ebenfalls Wikipedia)
Eine ausgezeichnete Beschreibung des kompletten Kreuzgangs in englischer
Sprache mit Fotos, Lageplan und Erklärung der einzelnen Arkaden ist hier zu finden.
In der Neuzeit musste der Kreuzgang beinahe dem Eisenbahnbau weichen.
Unvorstellbar, wie man überhaupt auf diese Idee kommen konnte.
Im Inneren der Kirche sind einige schöne, teilweise fast 1000 Jahre alte
Plastiken versammelt.
Der Gite auf einer Anhöhe über der Stadt. Ruhig um diese
Jahreszeit, im Sommer ist hier sicher mehr Betrieb.
Im Essensraum des Gite. Am Wochenende hat ein Seminar stattgefunden in den
Räumlichkeiten, von den Teilnehmern wurde ich zum Essen eingeladen. Ich bin
immer wieder beeindruckt von den kulinarischen Qualitäten und der Art, mit der
die Franzosen das Essen zum einem Fest machen.
Blick über die Stadt, im Hintergrund ist die Tarn zu sehen, die in der
Nähe in die Garonne mündet.
Blick etwas weiter nach links, die historische Altstadt mit der Abteikirche im
Vordergrund.
Das Äquadukt von 1853 verbindet den Canal du Midi mit einem Seitenkanal
der Garonne. Unter der Brücke fliesst die Tarn durch.
Ansonsten ist Moissac nicht die spannendste Stadt und kann den Vergleich mit
beispielsweise Le-Puy oder Conques nicht standhalten, die beide auf ihre Art
sehr interessant und eindrücklich sind. Ich kann mich jedoch im freundlichen
Gite gut von der harten Woche erholen und neue Kräfte sammeln.
Tag 36: Moissac(F)-Auvillar(F), 5h, 8°C
Le-Puy, Conques und Moissac hatte ich mir als Ziele für den jeweils kommenden
freien Sonntag eingeplant, und die Etappen unter der Woche dann ungefähr
entsprechend eingeteilt. Wobei ich zuhause überhaupt keine Detail-Planung
vorgenommen habe, das hat sich unterwegs so ergeben. Für diese Woche kann ich
im Pilgerführer allerdings kein rechtes Ziel für den nächsten Sonntag
ausmachen. Ich nehme mir vor, die Woche ruhig anzugehen und plane rund 200 km
als Wochenstrecke. Das wäre dann etwas mehr als 30 km pro Tag bei 6 Tagen
laufen.
Ein sonniger aber kühler Tag bahnt sich an. Die Strecke wird weitgehend eben
sein, entlang der Tarn und dann der Garonne.
Die Frühlingsanzeichen verdichten sich. Ohne den kalten Wind entlang des
Flusses wäre es wohl ein milder Tag. Ich kann mich heute sogar erstmals im
Windschatten eines Baumens eine Weile ins Gras legen und in den Himmel schauen!
Espalais in der Région Midi-Pyrénées, Département Tarn-et-Garonne. 290
Einwohner, zwei davon nutzen die gute Witterung aus und machen einen
Spaziergang. Was werden die wohl über mich denken, wenn ich sie gleich
überhole?
Der etwas verschlafene Eindruck dieser Gegend kommt nicht nur durch das antike
Auto am Strassenrand. Ich möchte nicht behaupten, dass Moissac mit seinen
13-tausend Einwohnern hektisch wäre, aber im Vergleich zu den Dörfern ist es
dort natürlich lebhaft.
Ich komme nach Auvillar oberhalb der Garonne, bin etwas über 20 km
gelaufen. Es gibt einen Gite hier, der wohl auch geöffnet hat. Der nächste Gite
ist rund 15 km entfernt. Heute möchte ich kein Risiko nehmen, nicht wieder ein
harter Wochenanfang, der mich dann die ganze Woche hindurch verfolgt. Also soll
es gut sein für heute.
Nur 5h gelaufen, ein seltsames Gefühl, mittags schon fertig zu sein. In der
Touristeninformation gibt es den Schlüssel zum Gite. Ein ganzes Haus! Ich lege
den Rucksack ab und erkunde den Ort.
Wie immer zuerst zur Kirche. Sie war der Mittelpunkt der Dörfer, ist es heute
auch noch oft.
Blick über die Garonne, durch das Tal bin ich heute von der rechten Seite
gekommen.
Es gibt viele alte Häuser, in den Hinterhöfen verfallen manche davon.
Ein gusseisernes Kreuz mit den vier Evangelisten, wie ich inzwischen gelernt
habe. Die Symboldarstellungen verwendet man in der Ikonographie:
* den Engel für Matthäus,
* den Löwen für Markus,
* den Stier für Lukas und
* den Adler für Johannes
Die Symbolik sehe ich oft in den Kirchen, meist sind sie an den Predigtkanzeln
angebracht. Unterwegs wie hier sehe ich sie selten.
Ich kann nicht einschätzen, ob sie Säulen vielleicht gar römischen Ursprungs
sind. Auf jeden Fall ein recht schmales Haus, vielleicht einmal an die
Stadtmauer oder ein Tor angebaut.
Etwas ausserhalb des Ortes finde ich dieses lädierte Gebäude, es ist eine alte
Kapelle. Leider verschlossen. Womöglich würde einem die Decke auf den Kopf
fallen.
Innerhalb des Ortes hingegen liebevoll restaurierte Häuser. Auvillar ist von
der Vereinigung "Die schönsten Dörfer Frankreichs" ausgezeichnet. Les
Plus Beaux Villages de France, das hört sich sogar für mich nicht-Französischsprachler
schön an.
Der interessante Uhren-Turm, Tour de l'Horloge, begrenzte früher den
Ort.
Leider muss ich feststellen, dass montags die Geschäfte geschlossen haben.
Immerhin kann ich ein Brot und ein paar Büchsen Bier in einem Tabakladen
kaufen. Ich gehe zurück in den Gite, um mir die Notration zu kochen. Dann
schaue ich mir den Gite an. Sogar eine Waschmaschine mit Tumbler sind
installiert. Ich kann es kaum fassen, als ich in den ersten Stock gehe: es gibt
eine (saubere) Badewanne!! Erstmals seit 36 Tagen eine Wanne. Heisses Wasser.
Spüli gibt den besten Badeschaum auf der Welt. Davon bin ich überzeugt, als ich
mich in den Schaum lege mit einer Büchse kaltem Bier. Ich weiche mich ein, die
Haut wird krebsrot. Sie ist sowieso gut durchblutet von der ständigen Bewegung
und der guten Luft, nun kann sie mit dem Hitzeschock kaum umgehen.
Ich geniesse. Ich kann mir jetzt nichts Schöneres auf dieser Welt vorstellen.
Tag 37: Auvillar(F)-Lectoure(F), 8h, -6°C
Ich konnte nicht gut schlafen und lag lange wach, habe gelesen. Ich gehe
morgens erst einkaufen, den Proviant auffüllen. Wenn ich schon dabei bin, hole
ich mir auch frisches Baquette und frühstücke im Gite. Danach den Schlüssel
abgeben, dann geht es gut gerüstet los.
Das Wetter ist anfangs schön, aber es weht ein eisig kalter Wind. Ich muss
meine Ohren gegen die Kälte schützen. Auf St. Antoine freue ich mich,
ich habe im Führer das Bild des interessanten Kirchenportals gesehen.
Das mozarabische Portal der Kirche in St.Antoine. In der Kirche selbst
ist wieder ein Stilmix wie auf einem Flohmarkt. Neben der Kirche gibt es ein
kleines Café, das auch Lebensmittel verkauft. Der Espresso und die Wärme tun
mir gut. Nach einer kurzen Pause geht es weiter.
Eine wunderschön geformte, ruhige Landschaft liegt vor mir, auf dem Hügel
gegenüber liegt Flamarens.
Nach einem steileren Anstieg, als es vorher den Anschein hatte, bin ich in Flamarens,
Région Midi-Pyrénées, Département Gers. 146 Einwohner. Das Schloss im Bild ist
privat, der Besitzer fährt hier gerade durch das Tor und verschliesst es dann.
Besichtigen ist nicht möglich für mich.
Die Kirche links im Bild bildet glücklicherweise eine Ausnahme unter den
Kirchen am Chemin de Compostelle:
Sie ist verfallen.
Für das Bild halte ich die Kamera durch das verschlossene Eingangsitter. Aussen
am Gitter hängt eine Kasse, in die man Spenden für die Restaurierung werfen
kann. Es wird wohl eine ganze Weile dauern mit den Arbeiten, wenn sie auf diese
Spenden angewiesen sein sollten.
Nach einem weiteren Marsch komme ich dann nach Miradoux. Es ist
Mittagszeit, alles ist geschlossen. Der Name klingt in meine Ohren sehr schön,
er passt nicht ganz zu dem, was ich sehe. Vielleicht kommt es auch daher, dass
es hier bitterkalt ist. Der eisige Wind macht es recht ungemütlich. Die Kirche
ist immerhin intakt.
Die Kirche Saint-Ornes ist aus dem 13.ten Jahhundert, sie wurde aus
Materialien einer älteren Burg gebaut. Nur der Turm der Burg steht noch - er
wurde in den Kirchturm intergriert.
In der alten Markthalle esse ich etwas Brot und Käse, trinke dazu einen Liter
Milch, den ich im Café von St.Antoine gekauft habe. Milch ist mein absoluter
Getränke-Favourit, wenn ich mich in der freien Luft bewege. Das war schon immer
so, auch bei Fahrradtouren früher.
Dabei liegt die Milch ja erstmal einigermassen schwer im Magen, aber ich habe
grossen Appetit danach. Jo mei, wenn's schee mocht, fällt mir da nur
ein.
Mittags wird es auf einen Schlag bedeutend wärmer, fast mild. Vielleich ist es
eine Art Föhn, ich bin ja nicht mehr weit vom Gebirge entfernt. Es sind
ungefähr 120 km Luftlinie zu den Pyrinäen. Ich laufe leicht schräg süd-westlich
an diesem langgestreckten Gebirgszug entlang, bis ich ihn bei
St-Jean-Pied-de-Port schneide.
Gegen 15 Uhr bin ich in Castet-Arrouy, einem kleinen Ort. Der Gite ist
geschlossen. Ich muss nach Lectoure gehen, dort gibt wohl es ein Kloster
zum Übernachten, allerdings ist laut Führer nur von April bis Juli geöffnet. Es
gibt auch einen regulären Gite, der allerdings umgebaut wurde. Ob der schon
fertig ist? Im Führer steht keine Telefonnummer bei diesem Gite, sonst hätte
ich angerufen.
Nach Lectoure sind es rund 10 km.
Ich muss also die Handbremse aufmachen und schnell laufen, um vor 16.30 Uhr bei
der Touristeninformation anfragen zu können, die schliessen wohl um diese Zeit.
Falls die nichts vermitteln können, müsste ich noch einige Kilomenter anhängen.
In Rekordtempo laufe ich nach Lectoure. Grosse, schnelle Schritte. Es geht
weiterhin recht hügelig auf- und ab, nach kurzer Zeit bin ich schweissgebadet.
Mit Mühe erreiche ich einige Minuten vor 16.30 die Touristeninformation. Sie
hat geöffnet! Hätte sie allerdings in einer halben Stunde auch noch, hier hat
bis 17 Uhr geöffnet. Egal.
Die freundlichen Damen versuchen zu helfen. Nach einigen Telefonaten werde ich
jedoch nervös, Schulterzucken zeigt mir zwischen ihren Gesprächen, dass alles
geschlossen ist. Ich werde doch nicht noch weitergehn müssen? Das würde mir
heute nicht gefallen. Ich bin aber immer noch so am schwitzen und hecheln, dass
ich mir erstmal keine weiteren Gedanke mache.
Endlich kommt Bewegung in die Mienen. Ich kann doch ins Kloster, sie nehmen
mich auf in der Not, super! Ich bedanke mich herzlich und schaue mir erstmal
die mächtige Kirche an, sie ist gleich neben der Touristen-Info.
Die Sonne scheint nun prächtig, es ist nichts von der Kälte zu spüren, die vor
einigen Stunden noch über der Gegend lag.
Die Kathedrale St-Gervais war früher Bischofssitz, wie mit den riesigen
gekreuzten Bischofsstäben im Chor jedem deutlich gemacht wird. Sie wurde
zwischen dem 14. ten und 17. ten Jahrhundert an die Stelle eines römischen
Tempels gebaut.
Der grosse Turm überragt den gepflegten Ort, der auch ein Heilbad hat. Leider
ist das schon geschlossen, ich hätte mich gerne in einen Sole-Whirpool gelegt.
Dann gehe ich zum Kloster. Accueil chrétien au presbytère. Ich hoffe auf
ein schönes Erlebnis wie in Conque oder gute Gesänge wie in Moissac. Der Anfang
ist gut, ich erhalte ein kleine Schlafzelle in einem ansonsten wie immer
menschenleeren Schlafsaal. Im Sommer geht es hier bestimmt anders zu. Schnell
Duschen, gleich ist Vesper in der Hauskapelle.
Doch welche Enttäuschung. Kein kultureller oder liturgischer Höhenflug.
Ungefähr 40 hochbetagte Nonnen und zivil gekleidete Damen sind in einem
Seitenschiff der Kirche innerhalb des Klosters versammelt. Eine der Damen
begleitet die wahrhaft dünnen Gesänge auf einer kleinen Orgel, die klanglich
einer der verheerenden Bontempi-Orgeln aus den 1970-ern in nichts nachsteht.
Ich möchte dem Kloster ausdrücklich für die freundliche Aufnahme danken (!) und
nicht schlecht über die Gastfreundschaft sprechen, dieser Teil des Abends war
jedoch -zum Glück- einmalig.
Ich habe sogar einen Aussenschlüssel für das Kloster erhalten, was auch
einmalig ist. Nach der Vesper gehe ich ins Ortszentrum, heute möchte ich mir
etwas gönnen und gehe Essen, erstmals seit Genf. Ich finde auch ein Restaurant
und wundere mich dann beim Essen über mich selbst - es ist ein auf
Meeresfrüchte spezialisiertes Restaurant. Wie in den letzten 30 Tagen auch esse
ich ... Fisch. Das Essen ist gut, der Wein ebenfalls. Zufrieden gehe ich zurück
in mein Quartier und schlafe selig ein.
Tag 38: Lectoure(F)-Condom(F), 9h
Ich werde heute früh wach und frühstücke Brot mit Butter und Honig, mein Camino
Lieblingsfrühstück. Nach dem Verlassen des Klosters werfe ich den Schlüssel in
den Briefkasten. Eine Bar hat bereits geöffnet, es gibt also sogar einen
Kaffee. Das muss förmlich ein guter Tag werden, nach diesem perfekten Start.
Von Lectoure geht es runter ins Tal. Beim Zurückblicken sehe ich durch den
Nebel die Sonne hinter dem Kirchturm der Kathedrale aufgehen.
Nebelschwaden ziehen durch das Tal.
Durch den Nebel ist es recht kühl, aber einiges milder als bei dem sehr kalten
Wind gestern Morgen.
Die ersten Kilometer geht es durch wunderbar abgelegene und stille Natur. Nach
einer Weile löst sich der Nebel auf und die Sonne kommt durch.
Bei Marsolan wird ein See gestaut für die landwirtschaftliche
Bewässerung, im Sommer ist es wohl eine trockene Gegend.
Ich laufe einen fünf Kilometer langen Umweg über La Romieu, dort soll
eine Stiftskirche mit einem schönen Kreuzgang sein. Anfangs nehme ich nicht
wahr, einen Umweg zu gehen, es hätte dann aber auch einen kürzeren Weg gegeben,
wie ich im Führer sehe.
Der Pilgerweg zum Wallfahrtsort Rocomadour kreuzt in der Nähe den GR65.
Als ich aus einem Waldstück komme, traue ich meinen Augen nicht.
Ein kleiner Ort, 500 Einwohner. Mittendrin, massiv und gross, ragt eine Kirche
auf. St.Pierre, aus dem 14.ten Jahrhundert. Wie konnte sich ein so
kleiner Ort eine so grosse Kirche leisten? Ich bin fasziniert. In meiner
Phantasie sehe ich die Pilger vor mir, die zur Mithilfe auf der Baustelle
gebeten werden und einige Wochen oder Monate arbeiten gegen Kost und Logis.
Der Name des schönen Ortes kommt von dem gascognischen Arromieu, das Pilger
bedeutet. Die mächtige Stiftskirche aus dem 14. Jahrhundert, die mit ihrem Turm
eher an eine Burg erinnert, verdankt La Romieu dem hier geborenen Kardinal
Arnaud. Der Kirchenfürst sorgte für das Wohlergehen des Ortes, wie die
verbliebene Festungsmauer, Reste des Kardinalspalastes und der Turm bezeugen.
Die nahe gelegene Abtei von Flaran, ebenfalls eine bedeutende Etappe der
Jakobspilger, beherbergt eine ständige Ausstellung über die Jakobswege. >(Quelle http://www.jakobus-info.de/unser_weg/camino2-4.htm>)
Leider ist die Kirche verschlossen, Mittagspause. Immerhin gibt einen kleinen,
geöffneten Lebensmittelladen. Käse und Baguette, herrliche süsse Stückchen und
ein Liter frische Vollmilch. Nachdem ich auch noch einen Grand Café auf
der Strasse in einem sonnigen Plätzchen einnehmen kann, bin ich über den
geschlossenen Kreuzgang hinweggetröstet.
Nach dieser angenehmen Pause geht es weiter durch eine hügelige Gegend. Auf
einem Höhenzug komme ich an die einsame Chapelle Sainte-Germaine aus dem
13. ten Jahrhundert, von einem kleinen Friedhof umgeben.
Dieser Ort hat eine wunderbar ruhige und friedvolle Ausstrahlung.
Beim Weitergehen blicke ich nochmals zurück auf die Kapelle. Bilderbuch
Anblick.
An solchen Orten könnte man meinen, es hätte die blutige europäische Geschichte
der letzten Jahrhunderte nicht gegeben. Dieser Zwiespalt zwischen gefühltem
Frieden und wissend von Unrecht und Gewalt verfolgt mich oft an historischen
Plätzen. Der Preis für den jetzigen Frieden war hoch.
Es gab viele Zeiten, da ich diesen Weg nicht ohne Lebensgefahr hätte laufen
können.
Ankunft nach Condom, die letzten Kilometer für heute.
Condom, Region Midi-Pyrénées, Département Gers. 32000 Einwohner. Condom
war früher Hochburg der Armagnac-Herstellung, daher gibt es auch gibt es ein
Museum, das der Armagnac-Herstellung gewidmet ist, musée de l'Armagnac.
In einem Fotogeschäft kann ich die Bilder von meiner Camera auf CR-ROM brennen
lassen, der Memory-Stick ist fast voll. Eine CD sende ich per Post nach Hause,
eine behalte ich bei mir als Backup, falls die versendete CD verloren gehen
würde. Dann formatiere ich den Stick und kann wieder bedenkenlos 500 Fotos
machen. Ich wusste nicht, dass Fotogeschäfte inzwischen fast überall diesen
Service bieten. Die müssen natürlich auch mit der Zeit gehen.
In der Mitte des Ortes ragt die spätgotische Cathédrale St-Pierre auf.
Während der Hugenottenkriege drohte die Hugenottenarmee 1569 mit der Zerstörung
des Doms, was von den Dorfbewohnern glücklicherweise durch der Zahlung eines
beträchtlichen Lösegelds verhindert werden konnte.
Die Pfingstgeschichte, detailreich in Stein gemeisselt.
"Als der Pfingsttag gekommen
war, befanden sich alle am gleichen Ort. Da kam plötzlich vom Himmel her ein
Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus,
in dem sie waren. Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich
verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. Alle wurden mit dem
Heiligen Geist erfüllt und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie es der
Geist ihnen eingab. In Jerusalem aber wohnten Juden, fromme Männer aus allen
Völkern unter dem Himmel. Als sich das Getöse erhob, strömte die Menge zusammen
und war ganz bestürzt; denn jeder hörte sie in seiner Sprache reden. Sie
gerieten außer sich vor Staunen und sagten: Sind das nicht alles Galiläer, die
hier reden? Wieso kann sie jeder von uns in seiner Muttersprache hören:
Parther, Meder und Elamiter, Bewohner von Mesopotamien, Judäa und Kappadozien,
von Pontus und der Provinz Asien, von Phrygien und Pamphylien, von Ägypten und
dem Gebiet Libyens nach Zyrene hin, auch die Römer, die sich hier aufhalten,
Juden und Proselyten, Kreter und Araber, wir hören sie in unseren Sprachen
Gottes große Taten verkünden. Alle gerieten außer sich und waren ratlos. Die
einen sagten zueinander: Was hat das zu bedeuten? Andere aber spotteten: Sie
sind vom süßen Wein betrunken. " >(Apostelgeschichte, Kap 2. Quelle: http://alt.bibelwerk.de/
Ich komme in einem sehr guten, grossen Gite unter. Wie immer bin ich alleine.
Für die Aussentüre erhalte ich einen Code, ich kann also ausgehen und die Türe
von aussen öffnen.
Als ich Glocken läuten höre, gehe ich in die Kirche. Es gibt am Ende des
Gottesdienstes den Segen, aus Asche wird ein kleines Kreuz auf den Kopf
gestreut. Diesen Segen gibt es am Aschermittwoch, ich habe also den Karneval
völlig unbemerkt verpasst! Wobei, in Konstanz waren die Strassen schon für die
Fasnet geschückt, wie mir jetzt wieder einfällt.
Seinen Namen erhielt der Aschermittwoch übrigens, weil Asche der Palmen vom
Palmsonntag des vergangenen Jahres am Aschermittwoch geweiht und den Gläubigen
vom Priester auf die Stirn oder den Scheitel gestreut werden. Dabei erinnert
der Priester die Gläubigen: Gedenke, o Mensch, du bist Staub, und zum Staube
kehrest du zurück. Asche ist Symbol sowohl der Vergänglichkeit wie der Buße
und Reue. Quelle
www.heiligenlexikon.de
In der Stadt sehe ich eine Pizzaria, die sehr gemütlich aussieht. Mit
Handschlag werde ich begrüsst und erhalte eine gute Pizza. Den Wein verkneife
ich mir. In den letzten Jahren habe ich es mir zu Angewohnheit gemacht, in der
Fastenzeit keinen Alkohol zu trinken. Die Fastenzeit dauert vier Wochen, von
Aschermittwoch bis Ostern.
Ich beschliesse, auch auf dem Camino diese Gepflogenheit beizubehalten. Es wird
mir schwerfallen, schliesslichlich laufe ich durch viele hochrangige
Weinbaugebiete.
Tag 39: Condom(F)-Eauze(F), 9h
Ich habe gut geschlafen heute Nacht, die Matraze war recht neu und nicht
durchgelegen. Nach dem Frühstück gehe ich in ein Café. Bei einer Tasse Kaffe
schreibe ich Postkarten an meine Familie. Das mache ich normalerweise abends
oder zwischendurch.
Desweitern kaufe ich in einem Bastelgeschäft Papier, um meinen Pilgerausweis zu
erweitern, der fast voll ist. Täglich hole ich mir im Gite oder einer Kirche
unterwegs einen Jakobsstempel ins Pilgerbuch.
Die Regel verlangt, dass man als Fusspilger die letzten 100 km vor Santiago mit
Stempeln nachweisen kann, um vom Pilgerbüro als Pilger anerkannt zu werden und
eine Pilgerurkunde, die Compostela zu erhalten. Die Tradition der Pilgerausweise
geht auf die früheren Empfehlungs- oder Geleitschreiben zurück. In diesen
Schreiben wurde um Hilfe und Unterstützung für den Pilger gebeten. Der
Pilgerausweis dient aber gleichzeitig als Herbergsausweis. Nur mit diesem
Ausweis ist es möglich, in Spanien in der Hochsaison in den Pilgerherbergen zu
übernachten.
Ich mache eine kurzen Abstecher über Larressingle. Eine Burg, die
weitgehend original erhalten ist.
Beim Weitergehen sehe ich auf einmal einen Wanderer vor mir. Zuerst als kleinen
Punkt, der dann immer grösser wird. Die Person ist etwas langsamer als ich.
Ohne den Abstecher wäre ich vorneweg gelaufen. Ich habe ganz gemischte Gefühle,
das Alleinesein ist nun wohl vorbei. Es geht auch schon gegen Ende Februar, es
werden nun wohl mehr Pilger unterwegs sein.
Nach einer Weile habe ich ihn dann eingeholt, als er zu einem Bauernhof
abbiegt. Ich achte gar nicht auf die Markierungen und laufe einfach hinterher.
Dabei geht er nur zu einem Bauernhof am Weg, um Wasser zu holen.
Dennik aus Antwerpen. Er ist seit dem 2. Januar unterwegs, in Le-Puy
losgelaufen. Er schafft am Tag 20-25 km, was mich sehr beeindruckt. 20 kg
Gepäck, einfachstes Material. Er übernachtet ausschliesslich im Zelt, irgendwo
unterwegs. Gites sind ihm zu teuer, da er seit Jahren arbeitslos ist. Mit
diesem Gewicht und dem Billigrucksack könnte ich keine 10 km insgesamt laufen
ohne Bandscheibenvorfall. Ich bin sehr beeindruckt.
Wir laufen den restlichen Tag zusammen, gegen Ende des Nachmittags bleibt er
bei einem ruhigen Wäldchen zurück, um sich was zu kochen und das Zelt
aufzuschlagen. Ich gehe weiter, als Luxuspilger Richtung Gite.
Leute wie Dennik, sehr hart im nehmen und gesundheitlich scheinbar
unverwüstlich, waren früher wohl ideal für Kreuzzüge, denke ich mir. Das mag
überheblich klingen, aber es ist nicht schlecht gemeint. Ich laufe zwar selbst
auch eine grosse Strecke im Winter, die vielen als verrückt erscheinen mag, aber
ich habe erstklassiges Material, schlafe im Warmen und kann mir gute Ernährung
leisten.
Dennik hat keine der Kirchen oder Kapellen besucht unterwegs, und sich somit
auch nicht in die ausliegenden Pilgerbücher eingetragen. Daher war er mir auch
nicht "bekannt". Einige Pilger laufen vor mir her, anhand der
Datumsstempel kann ich mir ausrechnen, ob und wann ich sie vielleicht treffe
unterwegs.
Dennis hat nach eigener Aussage keinen spirituellen oder geschichtlichen
Hintergrund. Sein Bruder sei letztes Jahr gelaufen und hat ihm den Camino
empfohlen, als Abenteuer.
Und dann ...
... dann sehe ich sie erstmals ...
... eine Gebirgskette am Horizont. Erst sind sie kaum wahrnehmbar, aber dann
unverkennbar: die Pyrenäen! Ein grossartiges Gefühl! Vor wenigen Tagen über den
Seerücken gelaufen am Bodensee, nun marschiere ich in Sichtweite der Pyrenäen.
Dann muss ich etwas schneller gehen, ich möchte heute nach Eauze. Die
letzten Kilometer geht's im Dunkeln. Da der GR65 aber über ein ehemaliges
Bahnbett führt, ist das gut zu machen. Ich hatte mich in der
Touristeninformation in Condom bereits ankündigen lassen. Die
Touristeninformation in Eauze ist zwar geschlossen, aber ich habe einen
Zahlencode für die Eingangstür erhalten, um das Tastaurschloss öffnen zu
können. Nicht schlecht, dieses Prinzip. Man spart sich die schwierig zu
organisierenden Schlüsselübergaben zu frühen und späten Zeiten.
Der Gite in Eauze. Ich weiss nicht warum, aber ich fühle mich komischerweise
etwas unwohl in diesem Haus. Nach dem Duschen hätte ich eigentlich richtig Lust
auf ein Bier, wegen dem Fastenzeitbeschluss verkneife ich es mir jedoch.
Stattdessen koche ich mir heisses Wasser. Leider sind jedoch keine Teebeutel da
und ich habe auch keine bei mir. Dann halt pur. Ich koche mir auch etwas zu
essen und gehe dann schlafen.
Tag 40: Eauze(F)-Nogaro(F), 5h
Heute scheint es ein sehr milder Tag zu werden, besonders in windgeschützten
Lagen. Die Natur bereitet sich sichtlich auf den kommenden Frühling vor. Die
Palmkätzchen erinnern mich an Ostern - das ist aber noch ein paar Wochen hin,
es ist nun Anfang März.
Es ist Freitag, ich plane den Sonntag in Aire-sur-l'Adour zu verbringen.
Somit brauche ich heute nur eine kleine Etappe zu laufen, morgen ebenfalls
keine grosse Etappe. Beim Zusammenrechnen gestern Abend habe ich festgestellt,
dass ich heute oder morgen wohl die 1000 km Grenze seit Konstanz überschreiten
werde.
Trotz der nur 20 km heute ist es recht anstrengend, das Weg ist ziemlich
profiliert und meine Füsse sind nicht ganz fit.
Herrliche Naturwege.
Zwischendurch immer wieder mal Blicke auf die verschneiten Gipfel der Pyrenäen.
Da sind ganz schön grosse Berge dabei, gut zu sehen inzwischen.
Ich freue mich nach rund 1000 km quer durch Europa, dass es noch so viele
schöne und ruhige Naturgebiete gibt, auch wenn die meisten Flächen land- und
forstwirtschaftlich genutzt sind. Ich habe ein paar Autobahnen und Gleise des
TGV gequert, alles in allem war ich aber meist auf Feld-, Wald und Wiesenwegen
oder sehr ruhigen Strassen unterwegs. Der Chemin de St. Jaques führt um die
Ballungsräume Lyon, St.Etienne und Toulouse herum, ohne dass man davon viel
merken würde.
Der Ort Manciet, Région Midi-Pyrénées, Département Gers. Hier kaufe ich
mir in einem kleinen Supermarkt Brot und Salami, heute ist mir seltsamerweise
nach Cola als Getränk. Neben der Kirche ist im Freien eine Sitzgelegenheit. Es
ist wieder einiges kühler geworden, sieht sogar fast nach Regen aus. Aber
erstmal Mittagessen. Mahlzeit! Die ersten grossen Schlucke Cola sind
erfrischend, aber dann bereue ich die Entscheidung. Milch wäre jetzt doch viel
besser. Der Wind frischt weiter auf, ich esse schnell und gehe weiter.
Mein Tagesziel ist Nogaro, wo es eine Auto-Teststrecke gibt. Schon von weitem
hört man das Gebrüll der Motoren.
Nach einer Weile bin ich in Nogaro, es ist erst Nachmittag. Von der
Teststrecke sieht man nichts, zum Glück riecht man auch nichts. An den Lärm gewöhnt
man sich etwas, ein schwerer Motor wird über die Bahn geprügelt, man hört ihn
vor Kurven drosseln und in den Kurven dann Vollgas geben.
Nogaro, 1900 Einwohner, wird für mein Gefühl beherrscht von einer
verkehrsreichen Strasse. Ich brauche lange, bis ich am Ende mit Hilfe der
Touristinformation eine Unterkunft finde. Ich komme bei einer Dame privat
unter. Ich lege mich auf das bequeme Bett und schlafe auch direkt ein, das war
wohl nötig. Nach zwei Stunden werde ich wach und mache einen Stadtrundgang. Das
Wetter ist recht ungemütlich geworden. In dieser Gegend haben die
Religionskriege schwer gewütet, von einem Kloster sind nur noch wenige Arkaden
des Kreuzgangs geblieben.
Daneben steht eine Kirche, die ich mir ansehe. Viel mehr gibt es nicht zu sehen
in diesem Ort.
Dann gehe ich eine Pizza essen - mit Mineralwasser. Die alkoholfreie Fastenzeit
wird hart werden in einem Land, wo es zu jedem Essen traditionell Wein gibt.
Tag 41: Nogaro(F)-Aire-sur-l'Adour(F), 7h,
15°C
Herrliches Wetter heute morgen, Föhn aus den Bergen mit teils heftigen Böen.
Ich habe gut geschlafen. Heute ist Samstag, es sind 28 km bis Aire-sur-l'Adour,
meinem Wochenziel. Das sollte gut zu machen sein, keine grosse Etappe nach
einer ganzen Woche kurzer Etappen.
Der Baustil des Fachwerks in dieser Gegend ist ganz speziell. Schmale, hohe
Felder mit wenigen Verstrebungen. Das mir bekannte Fachwerk ist eher
quadratisch mit mehr Diagonalen.
Ich komme nach Lanne-Soubirane. Région Midi-Pyrénées, Département Gers,
89 Einwohner. Auch der Kirchturm hat einen ganz eigenen Baustil, ganz anders
als die übrigen Kirchen in der Umgebung. Der überdachte Vorbau wäre gut zum
Übernachten geeignet, denke ich mir.
In der Kirche liegt das übliche Pilgerbuch aus für Eintragungen. Ich blättere
etwas darin um zu sehen, wann die anderen Pilger, die momentan unterwegs sind,
hier vorbeigekommen sind. Es sind immer dieselben Leute, der Abstand ändert
sich manchmal. Meist wird er kleiner, was mich freut, obwohl ich auf dem Camino
keinen sportlichen Ehrgeiz habe. Ich fange dann an zu rechnen, ob und wann ich
die Person treffen kann.
Vor der Kirche dachte ich noch, dass der Vorraum gut wäre für eine
Übernachtung. Dann lese ich den folgenden Eintrag:
"Vor 2 1/2 Jahren, als ich denselben Weg nach Compostela ging, durfte ich
in dieser Kirche nächtigen; nachdem es fürchterlich regnete und es schon Dunkel
war, öffnete mir ein Engel in Menschengestalt die Tür und ich war vor dem
Unwetter gerettet!
Ich tu mir oft schwer mit dem Glauben, aber hier neige ich mein Haupt und sage
Danke!
Für alle, die denselben Weg zu sich selbst gehen, wünsche ich das Beste und
Hoffnung und Mut!
Gerade wenn man glaubt völlig alleine und verlassen zu sein, öffnet sich oft
eine Tür und man entdeckt kurz das eigene Licht, wo dann alle Sorgen und Leid
von zuvor einer übermächtigen Freude weichen! Gunther aus Wien, 23-10-05"
Den Ort passiere ich ohne weiteren Aufenthalt, es gibt keine Bar oder Café am
Weg.
Stechginster. Diese Pflanze werde ich im weiteren Verlauf des Weges noch oft
sehen.
"Der Stechginster (Ulex europaeus) ist ein
immergrüner stachliger Strauch bis zu 2m Höhe. Seine Blätter sind zu feinen
Nadeln aufgerollt. Er trägt von April bis Juli gelbe, 2 cm lange Blüten und
seine Samen stecken in behaarten Hülsen.
Er bildet undurchdringliche Dickichte, in denen sich abgestorbene Büsche
anhäufen. Zusammen mit den 2–4 % leicht entzündlichen Ölen in den grünen
Zweigen bildet er ein hohes Brandrisiko – vor allem in den heißen
Sommermonaten." Quelle
Wikipedia
Die Pflanze sieht schön aus, besonders jetzt
im Winter. Sie ist wegen der Stacheln aber unangenehm, wenn man die Sträucher
durchqueren muss oder streift.
Die Berge kommen immer näher und sind nun sehr deutlich zu sehen.
Dann komme ich wieder in ein abgelegenes Gebiet und wundere mich sehr: momentan
geht die stark infektionsgefährliche Vogelgrippe um in Europa. Alle Zuchtvögel
müssen in geschlossenen Stallungen untergebracht werden. In Toulouse wurde vor
wenigen Tagen der Erreger bei einem Züchter gefunden und daraufhin wurden
tausende Tiere gekeult, wie ich den Nachrichten ansatzweise entnehmen konnte.
Hier treffe ich dann auf einer Wiese im Freien eine grosse Anzahl laut
schnatternder Gänse. Zum Glück geht der Weg in einiger Entfernung um das
Gelände, ich fühle mich trotzdem nicht ganz wohl.
Der Weg führt dann an einem kleinen, verwachsenen Bach vorbei. Auf einmal
schreckt ein Tier vor mir auf und flüchtet sich in das Wasser. Es ist ein
Biber, den ich für Sekundenbruchteile sehen kann. Mein erster Biber in freier
Natur! Ich bin ganz entzückt über dieses kurze Intermezzo.
Diese Beregner sind gigantisch gross, hunderte Meter lang. Sie fahren wohl
automatisch ihre Kreise, an den Endpunkten sind Stöcke in den Boden gerammt,
die den Regner umschalten und zurückfahren lassen. In heissen Sommern ist es
sicher ein Vergnügen, eine erfrischende Dusche zu erhalten.
Es geht auf einer interessanten Strassebrücke über die l'Adour.
Am Strassenrand dann ein Denkmal für Kämpfer der Résistance, die hier am
13 Juni 1944 ermordet wurden. Bei einem Massacre von den Allemands,
den Deutschen. Betroffenheit ergreift mich. Szenen von Kriegsfilmen gehen mir
durch den Kopf. Wollten sie vielleicht die Brücke sprengen, die ich eben
überquert habe?
Widerstand, Mut, Verrat, Tod. Die ältere und jüngere Geschichte Europas ist
allgegenwärtig auf dem Camino.
Man wird in dieser Gegend durchschnittlich wohl nicht sehr üppig verdienen.
Aber 298K EUR für eine Villa mit 1300 qm klingt für mich fast unglaubwürdig. In
der Randstad in Holland erhält man für diesen Betrag ein kleines,
total-renovationsbedürftiges Reihenhaus direkt an der Autobahn ohne Garten in
Schattenlage.
Ich bin zeitig in Aire-sur-l'Adour und
komme in einem Gite unter, hier kann ich bis Montagmorgen bleiben. Ich gehe
einkaufen, trinke einen Café. Wie üblich frage ich nach einem Internetcafe, wie
üblich ist die Antwort, dass es das nicht geben würde. Nach etwas nachforschen
finde ich ein Zentrum für Jugendliche. Dort stehen einige Rechner, umlagert von
Jugendlichen. Vom Betreuer kriege ich jedoch gleich einen PC zugewiesen, nett.
Email, Nachrichten lesen.
Als ich zurückgehe in den Gite, um mich etwas auszuruhen, treffe ich einen
anderen Pilger. Simon aus Saint-Malo. Er freut sich sehr, mich zu sehen,
ich freue mich ebenfalls. Er hatte schon bei seiner Ankunft gehört, dass ich da
wäre und würde mich kennen. Er spricht sehr gut Englisch. Woher er mich denn
kennen würde, frage ich ihn.
Er läuft seit Le Puy hinter mir her. Er kennt jede Macke im Profil meiner
Stiefel, er kennt meine Schrittlänge, meine Handschrift in den Pilgerbüchern.
Ich bin platt. Er ist einen Tag nach mir in Le-Puy gestartet, hat folglich
tausende meiner Abdrücke und Lebens-Zeichen gesehen.
Ich hatte ja vom grossen Wetterglück im Central Massif, dem Aumont Aubrac
erzählt. Von der plötzlichen Schneeschmelze und dem starken Regen in den Tagen
danach.
Simon hatte weniger Glück. Einen Tag nach mir
lag der Schnee wieder hüfthoch. Simon schaffte in einer Stunde nur 2 km. Er
konnte mit grosser Anstrengung nur bis Nasbanals kommen, bei mir war das die
Mittagsstation. In der Folge lief ich ihm dann teilweise zwei komplette
Tagesetappen voraus, er war dadurch manchmal recht frustriert. Aber gut, jetzt
machen wir uns einen schönen Samstagabend und gehen aus!
Simon fragt unterwegs nach einem guten Restaurant. Für 10 EUR p.P. bekommen wir
ein wunderbares Menü mit viel Wein. Schon vorteilhaft, wenn man die Sprache und
Gepflogenheiten kennt.
Eine schöne Geschichte erzählt Simon mir, ich falle vor Lachen fast vom Stuhl:
Nach den schweren Etappen durch den Schnee verfolgte das schlechte Wetter Simon
noch weiter. In Golinhac übernachtete Simon im Gite. Alles war komplett
durchnässt, die Heizung kam gegen die Kälte und Feuchtigkeit nicht an, seine
Moral war auf dem Tiefpunkt. Seine Wanderstiefel stellte er auf die Heizung zum
Trocknen. Und am nächsten Morgen ...
Ich kann mir schon vorstellen was passiert ist, und werfe ein, dass das Leder
sicher aufgerissen war.
Nein nein, meint Simon. Am Morgen lag ein Paar
lose Sohlen auf der Heizung und ein Paar Stiefel-Oberteile. Schuhgrösse 25. Die
Sohlen unverändert, die Stiefel komplett geschrumpft wie ein Schrumpfkopf.
Ich muss so laut lachen, dass sich die Leute im Restaurant nach uns umdrehen.
Ich muss mir die Tränen aus den Augen wischen, wunderbar!
Simon schleppt Turnschuhe mit im Gepäck, die
konnte er nun brauchen. Mit dem Zug ist er nach Toulouse gefahren, neue Stiefel
kaufen. Dann wieder zurück zum Ausgangspunkt. Und dann die Stiefel (Meindl Perfekt,
die Riesendinger aus massivem Leder) on-the-fly auf dem Camino eingelaufen.
Entweder passen die Stiefel wirklich perfekt oder er hat Füsse aus Stahl.
Simon ist Physiotherapeut. Ich erzähle von meinem schiefen Rücken und dem zu
kurzen Bein. Simon meint, er könnte das richten und würde sich freuen, seinen
Beruf nicht zu verlernen. Er lässt mich einige Rückenübungen machen. Er meint,
ich hätte in der Kindheit einen Wirbel gestaucht. Er löst die Verspannung durch
langsame Bewegungen des Beines und meint, das Bein wäre gar nicht zu kurz,
sondern das Becken durch die Verstauchung nur fehlgestellt. Ich bin skeptisch,
aber wer weiss, vielleicht stimmt es ja.
Morgen wird er weiterlaufen, ich werde an
meiner Tradition festhalten und am Sonntag einen Ruhetag einlegen. Wir haben
einiges gemeinsam, an vielen Stellen, Orten oder Gebäuden unterwegs hatten wir
ähnliche Gefühle und Empfindungen. Ich würde gerne noch mit ihm ein paar
Etappen laufen und mich mit ihm unterhalten. Aber gut, ich werde mir einen
schönen, ruhien Sonntag machen.
Tag 42: Aire-sur-l'Adour(F), 0°C
Ich habe gut geschlafen nach der Behandlung gestern. Eigentlich habe ich heute
meinen freien Tag und könnte ausschlafen, aber ich stehe mit Simon auf und
frühstücke mit ihm zusammen in der ansonsten leeren Herberge. Die
Herbergsmutter hat für uns das Frühstück gestern Abend vorbereitet und
zusammengestellt.
Simon geht nach dem Frühstück los, es ist recht kalt heute Morgen, auf den
Autos und den Dächern liegt eine dünne Schneeschicht.
Ich gehe in die Messe in das Kloster
Karmel. Erst beim Schreiben des Berichts sehe
ich im Internet, dass das Kloster recht gross ist. Vor Ort habe ich nur den
kleinen Innenhof und die Kirche gesehen.
Nach der Messe im Karmel laufe ich an la Cathédrale Saint-Jean-Baptiste vorbei, der Kathedrale Johannes des Täufers, dort läuten die Glocken
zur Hauptmesse. Ich habe ja nichts zu tun, daher gehe ich in die Kathedrale.
Direkter Vergleich weltliche vs. geistliche Kirche!
Das architektonische Rennen gewinnt zweifellos die weltliche Kirche. Die
Fassade ist schon recht interessant und ungewöhnlich, das Innere ist ebenfalls
speziell:
Drei grosse Chorräume nebeneinander, jeder gross genug für eine eigene Kirche.
Die Atmosphäre in der Kirche ist seltsam, ich empfinde sie als gefühllos und
kalt, ohne sagen zu können warum. Vielleicht bin ich einfach nur müde und etwas
erschöpft. Ich kaufe mir in einem der geöffneten Geschäfte frisches Brot und
verschiedene Sorten Käse, gehe zurück in die Herberge. Dort esse ich, der Käse
ist köstlich. Danach schlafe ich eine ganze Weile.
Nachmittags gehe ich spazieren in der Stadt. Auf einer Anhöhe steht noch eine
grosse Kirche, die recht interessant aussieht.
Église Sainte-Quitterie d'Aire, geschützt als Welterbe der UNESCO.
Die Türe ist verschlossen. Während ich mit das Portal anschaue, schlüpft eine
Dame mit einem grossen Stapel Wäsche auf dem Arm durch eine Seitentüre.
Kurzentschlossen gehe ich ihr nach.
Die Dame bringt frische Tischtücher für den Altar. Sie deutet mit ihren Fingern
an, dass sie in 10 Minuten schliessen wird. Aus dem Altarraum rechts höre ich
jedoch Stimmen und gehe vor, nachdem ich der Dame mit einem Nicken versichere,
zeitig zu gehen. Die Stimmen kommen aus der Krypta. Ich steige eine neugebaute
Treppe hinunter.
Die Gruppe besichtigt einen interessanten Altar.
Die Krypta ist gross und ungewöhnlich, da sie aus dem Altarraum oben einzusehen
ist.
Eine Darstellung der heiligen Quitterie, nach der diese romanische Kirche
benannt ist. Diese Heilige war mir nicht bekannt. Ihre Legende berichtet
folgendes.
"Die hl. Quitterie soll von
den arianischen Westgoten verfolgt und enthauptet worden sein. Nach ihrer
Enthauptung soll sie bis zur Quelle gegangen sein, wo sie dann ihr Haupt
niedergelegt habe. Deswegen sei dieses Wasser auch wunderkräftig.
Der Glaube an die Wunderkraft dieser Quellen wurde von lokalen Heiligenkulten
begleitet, von denen sich einige weiter verbreiteten, so der Kult der hl.
Quitterie. Der Legende nach war sie eine von 9 Töchtern. Weil sie sich
weigerte, zu heiraten, köpfte ihr Vater sie. Quitterie soll dann ihren Kopf
aufgehoben haben und ihn auf einem Tablett in die Kirche getragen haben, deren
Türen sich vor ihr öffneten. Sie stieg in die Krypta hinab, legte sich in das
Grab, das sie vorbereitet hatte und starb. Der sehenswerte frühchristliche
Sarkophag aus weißem Marmor wurde im 4.Jh. gehauen und steht immer noch am
ursprünglichen Platz. Er zeigt Christus im vornehmen Gewand und fürstlicher
Szene. Die wunderkräftige Quelle im Süden von Aire-sur-l'Adour entspringt an
dem Ort, an dem ihr Haupt zu Boden gefallen sei. Ihre heilenden Kräfte wirken
besonders bei Kopfschmerzen, Irrsinn und Tobsucht." (>Quelle
http://home.arcor.de/schaefer.sac/rwf/sdc/LEGENDEN.PDF)
Das kann man auch anders ausdrücken:
"Auf
einem Hügel bei Aire-sur-L´Adour, da quoll einst eine Quelle hervor, eine ganz
und gar heidnische. Und die Quellgöttin ließ sich verehren und sich Opfer
bringen. Wilde Tänze halbnackter wolllüstiger Weiber und ganz nackter viriler
junger Männer, die zu nächtlichen Stunden immer, und immer wieder, Leben
schufen, erfreuten die Göttin. Doch plötzlich tauchte die Idee auf, dass man
jungfräulich gebären sollte. Und auch die junge Gotenprinzessin Quitterie,
obwohl schon verlobt, wollte ihre Jungfräulichkeit nicht irgendeinem
dahergelaufenen Prinzen, sondern dem Herrn selber schenken. Dieser hatte auch
nichts dagegen. Sehr wohl aber der Prinz. Zu viele angestaute Hormone
verwirrten seinen Geist und er hackte der Verloben kurzerhand den Kopf ab. Und
schuf damit eine Heilige. Eine gute Tat? Zumindest diskussionswürdig. Die gute
Quitterie verlor darüber aber nicht den Kopf in dieser heiklen Situation.
Denselben flugs unter den Arm geklemmt und losmarschiert. Bis zum Standort der
heutigen Kirche. Und dem Kopfablageplatz entsprang eine Quelle. Heilbringendes
Wasser strömt daraus heute noch unterhalb der Krypta. Auch wenn die Reste
Quitteries, die bis zum 16. Jahrhundert in einem Sarkophag lagen, nicht mehr da
sind. Opfer im Streit um den echten Glauben vergangener Zeiten.
Wie gesagt, bereits die Kelten haben diese Quelle hier verehrt, die Römer, auch
keine Heiden, knallten einen Tempel über das keltische Heiligtum. Und die
Christen schliffen den Tempel und bauten die Kirche. Und bekämpften sich dann
gegenseitig noch im Streit um die wahre Wahrheit. An diesem Ort kann man
glauben, was man will, man liegt immer richtig. Und sollte jemand bei so viel
Glauberei den Verstand verlieren, dann kann er ja die heilige Quitterie
anrufen, den sie ist die Spezialistin für Geisteskrankheiten. Und es sollen
besonders viele Spanier hierher pilgern. Sagen die Franzosen." (Quelle:
http://www.mott-solutions.at/jakobsweg/if-woche09.htm)
Wie auch immer, ich finde einige schöne Steinmetzzeichen. Die mir bekannten aus
Deutschland sind meist geradlinig oder eckig.
Blick auf die Stadt. Sie ist etwas verschlafen an einem winterlichen
Sonntagnachmittag.
Ich plane die Wochenetappen und nehme mir Grosses für den nächsten Sonntag vor:
Pamplona in Spanien!
Tag 43: Aire-sur-l'Adour(F)-Pomps(F),
11.5h, 6°C
Heute Morgen geht es anfangs an einer sehr belebten Strasse neben dem Berufs-
und Schulverkehr entlang. Ich freue mich, wieder unterwegs zu sein. Am Ortsende
von Aire-sur-l'Adour ein Kilometerschild, noch 932 km bis Santiago.
Schnell bin ich wieder abseits des Lärms und Gestanks. Ich habe heute
Schwierigkeiten, die Schuhe richtig zu binden. Entweder sind sie zu fest
gebunden, zu lose, drücken hier oder da. Nach einer Weile beschliesse ich, die
Füsse für das erste zu ignorieren.
Gänse auf den Feldern, von der Vogelgrippe hoffentlich verschont.
Ich bin in der Région Aquitaine, Département Landes. Viele Häuser in der Gegend
haben einen Ziehbrunnen am Haus.
Latrille, ein kleiner Weiler auf rund 150 Hm. Die Landschaft ist recht
profiliert, trotz der tiefen Lage.
In Latrille ein Bildstock von 1965. Mit der Tischplatte hat er etwas von einem
Altar. Die älteren Bildstöcke sagen mir doch mehr zu.
Nach einem guten Stück laufen, bei dem ich zwischendurch von leichen
Regenschauern überrascht werde, komme ich nach Miramont-Sensacq. In der
Nähe soll laut Reiseführer eine alte Kapelle am Weg sein.
Der Friedhof von Miramont-Sensacq, grosse Familiengräber schauen über die
weiten Flächen mit Blick auf die Pyrenäen.
Dann wird es wieder hügelig und glücklicherweise sonnig.
Der Weg geht über Höhen und durch Täler.
Dann sehe ich die erwähnte Kapelle aus dem 11. Jahrhundert, sie liegt etwas
abseits des Weges.
Eine interessante Architektur. Um die freistehende Kirche -hinter der Hecke-
ist ein kleiner Friedhof angeordnet. Kilometerweit weg von der nächsten
Ortschaft, nur einige Bauernhöfe sind in der näheren Umgebung.
Ich bin begeistert. Ein schlichter Innenraum, mit einem fragilen hölzernen
Dachstuhl.
In der Ecke rechts ein sehr altes Taufbecken. Früher wurde man mit dem ganzen
Körper in das Taufbecken eingetaucht, in Analogie zu der Taufe am Jordan durch
Johannes den Täufer.
Diese Kirche hat eine enorme Ausstrahlung auf mich. Vielleicht durch ihre Lage,
ihr Alter oder ihre Schlichtheit?
Dann sehe ich von weitem ein weiteres interessantes Bauwerk. Was mag das sein,
eine Kirche oder eine Burg?
Der Name macht die Sache noch spannender. Pimbo, 179 Einwohner.
Dann bin ich an dem Bauwerk, es ist eine der ältesten Basteien Frankreichs. Das
romantische Portal der Kirche Saint-Barthélemy aus dem 12. Jahrhundert.
Sie basiert auf einer Benediktinerabtei aus dem 8. Jahrhundert, gegründet durch
Karl den Grossen.
Die Kirche wurde im 14. Jahrhundert beim Bau eines Wehrgangs umgestaltet, daher
auch die ungewöhnliche Gestalt.
An der Kirche treffe ich auch Dennik wieder, den Pilger aus Antwerpen. Er hat
vergeblich ein Geschäft für Einkäufe in Pimbo gesucht. Während ich mir die
Kirche anschaue, geht er weiter.
Blick von Pimbo auf das Tal, in das ich hinunter muss. Unten auf dem Weg sehe
ich Dennik laufen. Bis ich dann unten bin, ist er jedoch nicht mehr zu sehen.
Eine alte Scheune mit Pflanzen, die zum Trockenen aufgehängt wurden.
Nach einer Weile wieder eine interessante Kirche in einem Friedhof, die leider
verschlossen ist.
Auf dem Türsturz über der Kirchentüre sehe ich erstmals die Steinmetzzeichen,
die ich in den nächsten Tagen noch desöfteren sehen werde. Ich habe wohl eine
ethnische Grenze überschritten und bin im Gebiet der Basken.
Nach einem heftigen Regenschauer, den ich in einem Supermarkt in Arzacq-Arraziguet
trocken überstanden habe, spiegelt sich die Sonne im ablaufenden Wasser auf dem
Weg. Beim Einkaufen einer Brotzeit für das Mittagessen begann es sintflutartig
zu schütten. Ich durfte das Mittagessen dann im Laden zu mir nehmen. Brot mit
Käse, Milch und etwas Obst.
Nach Arzacq-Arraziguet waren es
rund 30 km seit Aire-sur-l'Adour. Von Arzacq-Arraziguet nach Pomps sind es
knapp 20 km. Der Ruhetag am Wochenende hat mir gut getan,
die Reserven sind wieder gefüllt. Beim Studium der Karte finde ich eine
Abkürzung, bei der ich allerdings einige Höhenmeter machen muss. Ich laufe den
kürzeren, steilen Weg (eigentlich habe ich die Karte studiert, weil ich seit
längerem keine Wegmarkierungen mehr gesehen hatte und mich nicht verlaufen
wollte). Nach einer Weile sehe ich alte, abgeblätterte GR65 Markierungen.
Dieser Weg war wohl früher der Jakobsweg! Der Aufsteig ist recht antrengend,
der neue Weg führt um die Hügel herum durch ein Tal.
Ich komme nach Garos, Région Aquitaine, Département
Pyrénées-Atlantiques. Herrliche Aussicht über ein weites Gebiet.
Dann geht es wieder ins Tal. Der originale GR65 ist zugewuchert und gesperrt.
Ich nehme einen Waldweg der ins Tal führt, die Richtung stimmt.
Ich komme nach Uzan. Hier gibt es wohl einen Gite, der allerdings nur
von April bis Oktober geöffnet hat laut Führer. In Pomps soll eine Gite sein
mit Öffnungszeit März bis Oktober. Es ist nun Anfang März, ich gehe daher das
Risiko ein und laufe Richtung Pomps weiter. Wo Simon wohl inzwischen ist?
Die Regenwolken und die Sonne liefern heute schöne Licht- und Farbspiele.
Um mich herum sind heute viele Regenwolken gezogen, teilweise bin ich trockenen
Fusses mitten durch die Regenfronten gelaufen.
Als ich dann in Pomps ankomme, beginnt es zu dämmern. Der Gite hat tatsächlich
geöffnet, worüber ich sehr dankbar bin. Allerdings ist es kein echter Gite,
sondern ein Container mit Betten. Nebenan eine Turnhalle, die momentan eine
grosse Baustelle ist. Dort kann ich duschen und kochen. Ich fühle mich
allerdings nicht ganz wohl in der Unterkunft, sie liegt abseits des Ortes.
Nachts muss ich austreten, der Sternenhimmel ist so weit, klar und hell, wie
ich ihn in Europa selten erlebt habe. Eine grandiose Gegend!
Tag 44: Pomps(F)-Navarrenx(F),
11h, 8°C
Ich bin sehr früh wach heute und fühle mich fit. Ein wunderbarer Morgen,
sonnig, aber eiskalt. Eigentlich sollte es Frühstück geben im Geschäft der
Herbergsleute, aber ich bin wohl zu früh dran, alles ist noch verschlossen.
Dann gehe ich los, zum Frühstück gibt es einen Apfel.
Nach dem Anstieg auf die Höhe ein klarer Blick auf die nahen Berge.
Die Chapelle de Coubin aus dem 12.ten Jahrhundert. Im Jahr 1569 wurde
das dazugehörige Hospiz im Glaubenskrieg von den Hugenotten vollständig
zerstört. Die Kapelle wurde ebenfalls stark beschädigt. Erst 1966 wurde sie von
einer privaten Initiative, den Amis de Coubin, wieder restauriert.
In Frankreich sieht man viel von den blutigen Glaubenskriegen. Abgeschlagene
Köpfe an Bildstöcken, beschädigte Kirchen und Klöster. An dieser Stelle möchte
ich die Hintergründe dieser grausamen Zeit etwas umfangreicher beschreiben, da
in den Reiseführern darüber wenig vermeldet wird.
"Anfänge der Reformation
in Frankreich
Um die Zeit, als in Deutschland durch die Thesen Luthers die Reformation
begonnen hatte (1517), gibt es in Frankreich eine Situation, in der das
Luthersche Gedankengut auf fruchtbaren Boden fallen konnte:
Franz I., der Frankreich seit 1515 regierte, hatte zu dieser Zeit die
katholische Kirche zunehmend zu einem Verwaltungsorgan des Staates aus- und
umgebaut: Seit dem Konkordat von Bologna 1516 hatte er das Recht, die hohen
Ämter der französischen Kirche nach eigenem Willen zu besetzen. Er nutzte dies
geschickt, um den französischen Hochadel in den entsprechenden Positionen
unterzubringen und ihn sich auf diese Weise zu verpflichten. Die Infrastruktur
der Kirche war für Franz ebenfalls von Bedeutung:
Ihre Präsenz in allen Städten und Dörfern, die hohe Reichweite, die die Pfarrer
in ihren Gemeinden erzielen konnten, und die Familienregister, die die
Pfarreien führten, waren Elemente, die er für verwaltungstechnische Aufgaben,
zum Beispiel die Veröffentlichung von Edikten, einspannen konnte.
Insbesondere in Paris führte diese Verweltlichung zu Widerspruch von
humanistischen Kreisen, insbesondere um Erasmus von Rotterdam und Jacques
Lefèvre d'Étaples. Um 1520 beginnt man, in diesen Zirkeln die Thesen Luthers zu
diskutieren, die die heilige Schrift zum Maßstab des Glaubens machen und die
Trennung von Staat und Kirche einfordern. Die theologischen Thesen Luthers
werden zunächst auch vom Königshaus eher positiv aufgenommen.
Franz I., ohnehin sehr aufgeklärt und aufgeschlossen zeigt sich ebenfalls
gegenüber den theologischen Aspekten der beginnenden Reformationsbewegung nicht
abgeneigt. So hält er zum Beispiel über Lefèvre seine schützende Hand, als
gegen diesen nach einer Abhandlung über Maria Magdalena ein Prozess wegen
Ketzerei angestrengt worden war. Die Reform einer Kirche von innen heraus ist,
zumindest was die theologischen Deutungen angeht, nichts, was Franz I. fürchten
müsste.
Zunächst einmal darf also um 1520 herum der reformatorische Gedanke auch in
Frankreich Fuß fassen. Von den Humanisten findet er auch rasch seinen Weg ins
gehobene Bürgertum, wo die vorhandenen weitreichenden Handelsbeziehungen nicht
nur Waren, sondern auch Ideen schnell verbreiten helfen.
Beginnende Verfolgung
Sehr schnell setzt jedoch eine katholische Gegenbewegung ein. Die Amtsträger
der Kirche sehen ihre Lehren durch die aufkommende Bewegung gefährdet: 1521
wird Luther vom Papst exkommuniziert, die Pariser Universität Sorbonne verdammt
seine Lehren.
Franz I. gerät dadurch zunehmend unter Druck, und zwar aus zwei Gründen:
* Der erste ist innenpolitischer Natur: Nach 1520 wird schnell deutlich, dass
die Reformation eben nicht nur eine theologische Geschichte ist, die sich in
den Studierzimmern der Gelehrten breit macht, sondern dass die Thesen die
bestehende klerikale (und eng damit verbunden auch die weltliche) Machtstruktur
anzugreifen beginnen.
* Zum zweiten befindet sich Franz I. zu dieser Zeit mit den Habsburgern,
genauer gesagt, mit dem deutschem Kaiser Karl V. in einem schweren Konflikt.
Frankreich ist über die Niederlande, Deutschland und Spanien von den
Habsburgern in die Zange genommen, in Norditalien befindet sich Frankreich im
offenen Krieg mit den Habsburgern. Würde Franz der Reformation in Frankreich
freien Lauf lassen, so hätte er auch noch Rom gegen sich, und Karl V., der 1521
über Luther die Reichsacht verhängt hatte, wäre - dann von Rom unterstützt -
von einer Invasion Frankreichs nicht mehr abzuhalten gewesen. Auch diese
außenpolitische Überlegung zwingt Franz dazu, sich mehr und mehr vom
Protestantismus zu distanzieren.
So kommt es zunehmend zu Repressalien gegen die Protestanten, die sich zu einer
Verfolgung zumindest des öffentlichen Protestantismus ausweiten: Die erste
Hinrichtung eines französischen Protestanten ist für den 8. August 1523 belegt,
als der Augustinermönch Jean Valliére in Paris am Pfahl verbrannt wird.
Untergrundkirche
Der Protestantismus wird bis etwa 1530 zunehmend in den Untergrund gedrängt.
Ein Teil der Protestanten flieht, unter anderem in die reformierten Orte der
Schweiz, wo Ulrich Zwingli gerade dabei ist, die katholische Kirche komplett zu
entmachten. Ins politische Aus gedrängt, treten die Protestanten aus dem
Untergrund jedoch zunehmend provokativer auf. Auf Plakaten wird die Messe der
Katholiken als Götzendienst bezeichnet (1534), Marienstatuen werden verunstaltet.
Etwa um 1533 schließt sich Johannes Calvin in Paris dem Protestantismus an. Bis
zu dieser Zeit wäre auch er eher als katholischer Humanist denn als
Reformierter zu bezeichnen. Nach einer protestantisch gefärbten Rede von
Nicolaus Cop, des Rektors der Universität Paris, die höchstwahrscheinlich unter
Beteiligung Calvins entstand, müssen beide aus Paris fliehen.
Doch trotz der Unterdrückung erhält die Bewegung noch immer Zulauf. 1546 bildet
sich in Meaux die erste protestantische Gemeinde in Frankreich. 1559 findet in
Paris die erste Nationalsynode der reformierten Christen Frankreichs statt. Zu
Beginn der 1560er Jahre haben die reformierten Untergrundkirchen etwa zwei
Millionen Anhänger, was in etwa zehn Prozent der französischen Gesamtbevölkerung
entspricht.
Diese reformierten Gemeinden sind jedoch nicht mehr lutherisch geprägt: Die
Verfolgung hat enge Bande der französischen Reformierten zu dem in Genf
lebenden Calvin entstehen lassen. Zwischen 1535 und 1560 durchdringt zunehmend
der Calvinismus das französische Protestantentum, und der Calvinismus ist es,
der
den Dissidenten Zulauf verschafft. Jetzt kommt auch der Name
"Hugenotten" auf.
Die Hugenottenkriege
1547 stirbt Franz I., sein Sohn Heinrich II. besteigt den Thron Frankreichs. Er
setzt die Repression gegenüber den Hugenotten unvermindert fort. Etwa um diese
Zeit beginnt das Habsburgerreich in eine Vielzahl von Kleinstaaten zu
zerfallen: Kaiser Karl V. bekommt die Reformation nicht mehr unter Kontrolle,
und der Kompromiss des "Cuius regio, eius religio" tat ein Übriges
zur Spaltung des Kaiserreiches.
Heinrich II. möchte ähnliche Zustände wie in Deutschland in jedem Fall
verhindern. Zunehmend haben sich jetzt auch Adelige den Hugenotten
angeschlossen, und eine Übereinkunft nach dem Augsburger Prinzip für Frankreich
hätte die unter Franz I. erfolgreich verlaufende Zentralisierung Frankreichs
schwer beschädigt. Damit beginnt endgültig die politische Diskriminierung des
Protestantismus in Frankreich.
Eine neue Einrichtung und drei Edikte reichen, um die Hugenotten mehr und mehr
zu unterdrücken: Da ist erst einmal die Einrichtung der chambre ardente in
Paris, einer Kammer, die die hugenottischen Parlamentsabgeordneten verfolgt. Im
Juni 1551 wird dieses Prinzip im Edikt von Châteaubriand dann auch auf die
Provinzparlamente ausgedehnt. Das Edikt von Compiègne folgt im Juli 1557:
"die Ordnung in irgendeiner Weise störende" Protestanten werden der
weltlichen Gerichtsbarkeit unterstellt; die Verurteilung wegen Häresie lässt
Heinrich noch in den Händen der Kirche. Den Schlusspunkt setzt er dann am 2.
Juni 1559 im Edikt von Écouen: Von nun an dürfen die Gerichte für Häresie nur
noch die Todesstrafe verhängen. Kurz nach dem Edikt stirbt Heinrich.
Unter Heinrichs Sohn Franz II. hält die begonnene Vertreibung an. 1562
überfallen katholische Soldaten bei Vassey Protestanten während eines
Gottesdienstes. Die Bartholomäusnacht 23./24. August 1572 in Paris löst erneute
zahlreiche Flüchtlingsströme aus. Wichtige protestantische Persönlichkeiten
werden ermordet. Die Zahl der Todesopfer beträgt in Paris etwa 3.000 und auf
dem Lande zwischen 10.000 und 30.000. Schließlich bringt 1598 das Edikt von
Nantes eine zeitweilige Beruhigung der Lage, die jedoch nur bis zur Eroberung
von La Rochelle (1628) anhält. Nach dem Tod Kardinal Mazarins übernimmt der
"Sonnenkönig" Ludwig XIV. 1661 die Regierung und leitet eine groß
angelegte mit Bekehrungs- und Missionierungsaktionen verbundene systematische
Verfolgung der Protestanten ein, die er aufgrund der einsetzenden Flüchtlingswellen
1669 mit einem Emigrationsverbot verbindet und die schließlich in den
berüchtigten Dragonaden 1681 ihren Höhepunkt finden. Trotz Verbotes verlassen
im Laufe von etwa fünfzig Jahren ca. 200.000 Flüchtlinge ihre Heimat.
Im Edikt von Fontainebleau 1685 widerruft Ludwig XIV. das Edikt von Nantes. Wer
nunmehr als Protestant erkennbar ist, wird mit Haft oder Galeerenstrafe belegt.
Daraufhin begeben sich viele in eine Untergrundkirche und leisten teilweise in
den Cevennen Widerstand (Camisarden). Dort kommt es in den Jahren 1703 bis 1706
zum Bürgerkrieg, worauf Ludwig XIV. über 400 Dörfer dem Erdboden gleich machen
lässt. Das Psalmensingen und Bibellesen wird mit hohen Strafen belegt. Viele
Menschen treten zwangsweise zum Katholizismus über, auch um den gefürchteten
Dragonaden zu entgehen. Aber der Protestantismus lässt sich nicht ausrotten,
weil die verfolgten und bestraften Protestanten als Märtyrer verehrt werden.
Da die Angehörigen der protestantischen Oberschicht, darunter die meisten
Geistlichen, ins Ausland fliehen, wird die Kirche durch Laienpastoren geleitet,
die sich durch eine göttliche Eingebung berufen fühlen. Deshalb kommen
prophetische und ekstatische Formen der Religiosität auf. Sie werden in der
Bewegung der Inspirierten in ganz Europa wirksam.
In den Nachbarländern fanden die besitzlos gewordenen Hugenotten, die zur
leistungsfähigsten Schicht der Gesellschaft zählten, bei den Herrschern
bereitwillige Aufnahme, Privilegien und Kredite, was in der übrigen Bevölkerung
wiederum Unverständnis, Neid und Anfeindungen auslöste. Zumal stießen sie als
Reformierte auf Lutheraner, so dass sie wiederum eine religiöse Minderheit
verkörperten.
Zu den Ländern, die für etwa 200.000 Hugenotten eine neue Heimat wurden, zählen
die Schweiz, die Niederlande, England, Deutschland und Amerika. So wurden mit
dem Edikt von Potsdam vom 29. Oktober 1685 die reformierten Hugenotten im
lutherischen Preußen aufgenommen.
Erst unter Ludwig XVI. schuf das Toleranzedikt 1787 eine neue Möglichkeit
protestantischen Lebens in Frankreich." (Quelle Wikipedia)
Hinter der Kapelle der Blick ins Tal der Pau.
Nach wenigen Metern komme ich nach Arthez-de-Béarn, ein richtiges
Städtchen mit vielen Geschäften, 1580 Einwohner.
Beim Ortseingang kommt mir Serge entgegen. Er kommt aus ... Belgien. Scheinbar
ist der Winter in Belgien wenig attraktiv, wenn so viele Belgier im Winter auf
dem Camino pilgern.
Angeblich ist er seit Jahren auf dem Camino unterwegs, gerade auf dem Weg nach
Rom. Die neue Kleidung und Ausrüstung hat er nach eigenen Angaben von einem
Bischof unterwegs erhalten.
Serge hat eine interessante Nachricht. Er hat heute Nacht in Arthez-de-Béarn im
Gite übernachtet - zusammen mit Simon. Der hat folglich nur wenige Stunden
Vorsprung, er ist auch früh losgelaufen. Vielleicht treffe ich ihn ja wieder.
Ich verabschiede mich von Serge, der Richtung Alpen läuft. Zuerst werde ich in
ein Café gehen, ich habe mir ein echtes Frühstück verdient.
Nach einem schmack- und nahrhaften Frühstück mit Honigbrot und viel Café kaufe
ich noch Lebensmittel ein. Dann geht es weiter, hinunter ins Tal. Die ganze
Gegend riecht nach Benzin. Die Industriebetriebe, die ich auf dem Hügel gesehen
hatte, sind wohl Raffenerien.
Maslacq, 10 km nach Arthez-de-Béarn. Zeit für das Mittagessen. Ich kaufe
noch Bananen, Milch und Schokolade. Dann suche ich ausserhalb des Ortes einen
schönen Sitzlatz, finde aber keinen und laufe weiter. Nach einer Weile werde
von einem heftigen Wolkenbruch überrascht. Ich schaffe es in einen kleinen
Geräteschuppen an einem Acker. Dort lasse ich mir das Mittagessen schmecken,
während der Regen an den Schuppen prasselt.
So schnell wie er gekommen ist, ist der Regen auch wieder weg, genau wie
gestern.
Ein Brunnen in der Nähe der Notre Dame de Muret, auf einem Vorsprung
über dem Tal der Pau.
Deutlich sind nun die Industrieanlagen zu sehen. Sie wirken etwas unwirklich,
nach den vielen rein landwirtschaftlichen Gebieten der letzten Wochen.
Und dann das: Ich verpasse eine Abzweigung und komme nach Lagot.
Vielleicht ist es auch ein Freud'scher Verlaufer. Der eigentliche Weg führt
über Sauvelade, aber der Reiseführer vermeldet dazu "Abtei
Sauvelade (unfreundlich, Nachmittags geschlossen)". Das ist deutlich.
Von Lagor nach Navarrenx -dem nächsten Ort mit Gite- sind es 18 km entlang der
Strasse. Erst eine kleine Landstrasse, dann eine grössere Verbindungstrasse mit
viel Verkehr. Es fängt dazu wieder heftig an zu regnen. Ich könnte mir jetzt
durchaus auch vorstellen, in einem Café zu sitzen. Zumindest solange, bis der
Regen weg ist.
Sich selbst zu deprimieren hat natürlich keinen Sinn, daher frohen Mutes
weiter. Ich lege die Reflektionsstreifen an, die ich in Figeac gekauft habe.
Der Verkehr ist gefährlich, die Autofahrer sehen wenig durch das aufgewirbelte
Wasser. Als ich dann endlich in Navarrenx einlaufe, bin ich froh,
unbeschadet angekommen zu sein. Ob Simon auch hier ist?
Ich bin völlig durchnässt. Es gibt zwei Gites in Navarrenx, ich kann
komischerweise keinen der beiden finden. Auf meine Fragen hin werde ich in eine
Bar geschickt. Dort muss ich über eine Stunde warten, weil die Herbergsmutter
nicht da ist, sondern nur ihre Tochter. Die Tochter lässt mich nicht in den
Gite. Meine Kleider tropfen. Nach einer Weile ist es nicht mehr lustig, aber
nichts zu machen. Hoffentlich hole ich mir keine Erkältung.
Dann endlich kommt die Mutter, ich darf in den Gite. Wozu ich warten musste,
wird mir nicht klar. Aber gut, der Gite ist in einem normalen Haus mitten in
der Stadt untergebracht. Und er ist luxoriös, mit kleinen Grupppen-Zimmern. Ich
höre Stimmen aus der Küche. Simon! Und zwei andere Männer, sie sehen jedoch
eher aus wie Landstreicher. Simon ist sehr überrascht, mich nach dem Ruhetag
hier zu sehen. Ich habe in zwei Tagen knapp hundert Kilometer zurückgelegt. Das
merke ich nun aber auch.
Ich dusche erstmal heiss, um wieder aufzutauen. Dann kochen wir, sitzen
zusammen und erzählen. Die zwei Burschen gehen aus, wir bleiben im Gite. Recht
spät für meine aktuelle Verhältnisse gehe ich schlafen. Innerhalb von Sekunden
bin ich eingeschlafen.
Tag 45:
Navarrenx(F)-Ostabat(F), 11h, 12°C
Es hat die ganze Nacht geregnet, morgens hat es zum Glück aufgehört. Nach dem
Frühstück im Gite gehen Simon und ich gemeinsam los. Die anderen beiden
schlafen noch.
Der Boden ist durch den Dauerregen sehr aufgeweicht und ungemein schwer.
Das habe ich vorher schon ein paarmal gesehen unterwegs, konnte es mit aber
nicht ganz erklären. Lange Leitern reichen bis in die Baumspitzen. Ich vermute,
dass es sich um Anlagen für die Vogeljagd handelt und in den Bäumen Netze
aufgespannt werden.
Die Gegend wird immer hügliger, je näher wir den Pyrenäen kommen. Ich habe
einige Jahre in der Nähe des Appenzellerandes in der Schweiz gewohnt, die
Landschaften ähneln sich stark.
Die Kommune Aroue-Ithorots-Olhaïby heisst auf baskisch Arüe-Ithorrotze-Olhaibi.
In Olhaiby öffnet uns ein Nachbar die kleine Kirche Saint-Just.
Der Nachbar bleibt bei uns, wohl damit wir nichts demolieren oder stehlen. Über
dem Altar hängt ein brutales Bild, auf dem der heilige Just oder eine andere
bemitleidenswerte Person mit einem Krummsäbel geköpft wird.
Nach einer kleinen Mittagsrast ausserhalb der Kirche, bei der uns die Sonne
wärmt, geht es wieder weiter.
Eine schöne Landschaft mit lieblichen Hügeln, Tälern und Bächen. Im Frühjahr
muss es hier wunderbar sein, wenn die Wiesen im Saft stehen und die Hecken und
Bäume blühen.
Gegen Ende des langen Tages wären wir fast am Stein von Gibraltar
vorbeigelaufen, der etwas neben dem Weg steht. Dieser Stein von Gibraltar
markiert die Vereinigung der drei klassischen Jakobswege über Paris, Vézelay
und die Via Podiensis von Le-Puy-en-Velay. Das Wort Gibraltar hat nichts mit
der britischen Exklave in Südspanien zu tun, sondern entstammt dem baskischen Chibaltarem,
einer alten Aussprache von Salvatorem. Übersetzt als Retter oder Erlöser
handelt sich dabei um einen Ehrentitel, den die frühe Kirche Jesus Christus
gegeben hat.
Dann erwartet uns wohl eine ordentliche Steigung.
Der Feierabend will heute verdient sein.
Der Anstieg zur Chapelle de Soyarza wird dann allerdings mit einer
grandiosen Aussicht auf die nahen Berge und über das hügelige Baskenland
entschädigt.
Noch ganz ausser Atem, wir sind den Hügel aus unerfindlichen Gründen fast
hochgerannt, sind wird ganz benommen von der Schönheit der Natur.
Übermorgen werden wir die Berge überqueren!!
Bis wir nach Ostabat kommen, ist es dann aber noch ein ganzes Stück, mit
etlichen Höhenmetern. Es ist schon fast Dunkel, als wir endlich ankommen. Die
Hosen sind fast gleichmässig braun mit einer dicken Schicht Erde verschlammt.
Der Gite in Ostabat ist allerdings geschlossen. Einen Kilometer hinter dem Ort
soll ein weiterer Gite sein, eine Privatunterkunft. Von aussen ist beim
Näherkommen alles dunkel. Das wäre bitter, nach einem weiteren 50 km Tag durch
schweres Gelände noch weiterlaufen zu müssen in den nächsten Ort mit einer
Unterkunft.
Nach einigem Klingeln wird geöffnet, eine freundliche Frau gibt uns ein Zimmer
und versorgt unsere verdreckten Stiefel. Wenn sie morgen etwas angetrocknet
sind, fällt der Dreck von alleine wieder ab.
Als wir in den Speiseraum kommen gibt es eine Überraschung. Es sind noch drei
andere Pilger oder Wanderer da, um die 60 Jahre alt. Alle sprechen französisch,
mir soll es recht sein. Es gibt baskische Spezialitäten, fette Wurst, Rührei,
Fleisch.
Simon und ich schlagen zu, als gäbe es kein morgen. Dazu natürlich Wein (für
mich Wasser) und Schnaps (für mich Wasser).
Das Essen zieht sich lange hin. Als wir endlich fertig sind, falle ich wie ein
Stein ins Bett.
Tag 46: Ostabat(F)-St-Jean-Pied-de-Port(F),
6h, 15°C
Heute ist ein milder, fast schwüler Tag mit hoher Luftfeuchtigkeit. Es ist ein
relativ einfacher Tag geplant um morgen für den Pyrinäen-Übergang fit zu sein.
20 km sind es nach Saint-Jean-Pied-de-Port auf einer nur leicht profilierten
Etappe.
Larceveau, ein kleiner Ort am Weg, immerhin mit einer Bäckerei. Die drei
Franzosen von gestern in der Pension sehen wir übrigens nicht mehr. Sie sind
mit uns aufgebrochen, gehen es jedoch sehr gemütlich an.
Dann kommen wir nach Gamarthe, einem kleinen Weiler mit 105 Einwohnern.
Die Kirche sieht gedrungen aus. Eine Nachbarin hat den Schlüssel und öffnet
uns.
Die Tür in der Tür. Eine sehr kleine Öffnung, ich muss mich tief verbeugen, um
eintreten zu können. Ob das die Absicht hinter dem kleinen Eingang ist?
Auch die Inneneinrichtung ist interessant. Zwei Emporen, wohl aus Platzmangel
in der Kirche angelegt. Aber schon alleine durch die demographische Entwicklung
des Ortes wird dieser Platz momentan wohl nicht benötigt. Die
Bevölkerungsentwicklung hat sich jedoch immerhin stabilisiert in den letzten
Jahren. (Quelle Wikipedia)