Zurück zum Teil I: Konstanz nach Genf
Tag 7: Genf (CH)-Frangy (F), 11.5h, 5°CDie Basilika Maria Immaculata (Notre Dame) von Genf, gegenüber dem Bahnhof. Im Vergleich zu anderen Basiliken ein recht kleines Gebäude. Genf hat natürlich auch eher eine reformatorische Tradition um Calvin, dazu später mehr. Erstmals entdecke ich das lange erwartete Muschelsymbol als Wegweiser. Nun geht der Jakobsweg also richtig los - obwohl es eigentlich den Jakobsweg nicht gibt. Es gibt historische Routen, die sich im Laufe der Zeit an Bedürfnisse und Gegebenheiten angepasst haben. Als grundlegendes Wegesystem des Jakobsweges wurde auch auf alte römische Wege zurückgegriffen, da sie gut angelegt und ausgebaut waren. An etlichen Stellen, besonders in Spanien, wurde der originale Jakobsweg weiter ausgebaut, inzwischen teilweise sogar zu Autobahnen. Die Altstadt von Genf. Alles ist ruhig, es ist Sonntag morgen. In der Altstadt. Im Park der Universität ist ein grosses Denkmal angebracht. Ich spreche einen Passanten an, und erhalte einen umfangreichen Vortrag über das Denkmal und die Geschichte Genfs, über den ich mich sehr freue. Der Passant stellt sich dann als Fremdenführer vor, der zufällig vorbeikam, er wiederum freut sich, einen interessierten Zuhörer zu finden. Das Reformationsdenkmal besteht aus einer etwa 100m langen, bewusst schmucklos gehaltenen Skulpturenwand im Parc des Bastions, angebracht an die alte Verteidigungsmauer Genfs. Die oben dargestellten Reformatoren sind Farel, Calvin, Beza und Knox. Der Grundstein des Denkmals wurde am vierhundertsten Geburtstag von Johannes Calvin im Jahre 1909 gelegt. Calvin, eigentlich Jean Cauvin (* 1509 in Noyon, Picardie; † 1564 in Genf), war ein Schweizer Reformator französischer Abstammung und Begründer des Calvinismus. Calvins Lehre beinhaltet, dass die Menschen an ihrer Fähigkeit zu strengster Pflichterfüllung sehen könnten, ob sie zum Heil vorausbestimmt seien. Obwohl Calvin mit dieser seiner Prädestinationslehre eigentlich die Allmacht Gottes und Bedeutungslosigkeit des menschlichen Willens betonte (innere Religiosität), begünstigte sie in Verbindung mit der strengen Moral und Kirchenzucht (äußere Religiosität), die Calvin in Genf einführte, jenes Arbeitsethos, das die Grundlage für das Gewinnstreben im Kapitalismus bildete (>Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Calvin) Nach einem langen Marsch durch Genf und die Vororte zeichnet sich dann endlich ab, dass ich bald aus der Stadt herauskomme. Laut dem Ampelmännchen muss ich wohl rennen. Die Häuser verändern sich, die Vororte werden zu Dörfern, was die meisten Vororte vor einiger Zeit wohl auch waren. L'ancienne commanderie de Compesieres, eine alte Burg des Malteserordens. Ursprünglich wurde der Gebäudekomplex als Hospiz für Pilger gebaut, dann als Militärhospital genutzt, später befand sich darin eine Salpeterfabrik. Heute ist ein Museum darin untergebracht.
Auf dem Friedhof der Burg liegen Persönlichkeiten des Malteserordens. Charrot, ein kleiner Ort. Unerwartete Station dann in Charrot. Ein Kasten mit Kartenmaterial, Infos, Notfallnummern und einem Stempel für den Pilgerausweis. Deutlicher Unterschied zum Pilgerservice in der Schweiz. Ohne es gemerkt zu haben, habe ich die französische Grenze überschritten. Wo die genau war, konnte ich nicht feststellen. Schön, dass das heute so einfach geht. In anderen Zeiten hätte mich das den Kopf gekostet, einfach über Landes- oder Konfessionsgrenzen zu gehen. Der jeweilige Landesherr gab die Spielart vor -cuius regio, eius religio-, die oft genug mit dem Schwert verteidigt wurde. Das calvinistische Genf und das katholische Frankreich haben sich diesbezüglich lange und blutig beharkt. Misteln verleihen einem ansonsten blattlosem Baum grünes Aussehen mitten im Winter. Lathoy, ein kleiner Weiler. Neydens, im französischen Département Haute-Savoie in der Region Rhône-Alpes. Seit dem Mittelalter unterstand Neydens der Genfer Herrschaft. Erst 1754 kam der Ort an Savoyen und teilte fortan dessen Schicksal. Kreuzung in Neydens mit dem französischen Hahn. Ein römischer Meilenstein wurde im Gefallenendenkmal eingearbeitet. Kreuz mit den Leidenswerkzeugen, die bei der Passion Christi angewendet wurden: Nägel, Ruten, Geißel, Dornenkrone, Lanze, Essigschwamm auf einem Rohrstock usw. Für mich ist diese Darstellung ungewohnt, ich werde sie im Verlauf des Weges jedoch oft wiedersehen.
Gute Übersichtstafel mit der Wegführung, Höhenprofil und Symbolbeschreibung. Für mich beginnt nun in Frankreich eine Reise ins Ungewisse. Ich habe von Frankreich für die ersten hundert Kilometer Detailkarten dabei und die Übernachtungslisten anderer Pilger aus dem Internet, sowie einen kleinen Reiseführer aus der Outdoor Serie vom Stein Verlag. Ich habe die Strecke jedoch nicht strikt durchgeplant, und werde dort schlafen (müssen), wo es eben geht. Um diese Jahreszeit werden wohl auch nicht alles Gites geöffnet sein. Für den Fall der Fälle habe ich eine dünne Isomatte dabei (3mm, mit Alufolie verklebt) und einen guten Daunenschlafsack. Allerdings ohne Schutzhülle oder Zelt. Ganz im Freien zu liegen wird nicht funktionieren. Schnee, Regen oder Reif würden den Schlafsack aufweichen und somit den Wärmeeffekt nehmen. Fehlende Sprachkenntnisse werde ich selbstbewusst durch Gestik und Mimik ersetzen. Aber früher hatten die Bauern aus Europa auch keine französischen oder spanischen Fremdsprachenkenntnisse und sind trotzdem zu Millionen nach Santiago gepilgert. Recht authentisch also, die Sache hier. Vom Lac Léman, dem Genfer See auf 370 Hm, gehe ich heute über den Col du Mont Sion auf 785 Hm. Im Bild die Hänge des Mont Salève (1350 Hm). Ungewohnt schneefrei nach den Tagen in der Schweiz. Beaumont. Hier gibt es wohl einen Gite, eine günstige Unterkunft also mit Etagenbetten und kleiner Küche, die man benutzen kann. Der Gite ist allerdings verschlossen, die Herbergseltern sind nicht anwesend. Was tun, bleiben oder weitergehen? Es ist 16Uhr, allzu lange ist es nicht mehr hell. Im Ort zu warten ist aber auch kein Spass - kein Cafe, keine Restaurant. Und wer garantiert, dass der Gite heute noch geöffnet wird? Ich entschliesse mich zum Weitermarsch. Dann muss ich nun aber ordentlich Tempo machen, wenn ich halbwegs vor Einbruch der Dunkelheit zur nächsten Unterkunft kommen will. Kirche von Beaumont. In Frankreich sind die Kirchen nicht beheizt, dort zu warten auf einen Schlüssel zum Gite wäre also auch keine angenehme Alternative. Oha. So hatte ich mir das aber nicht vorgestellt! Blankes Eis, es ist auch recht zugig hier auf der Höhe. Col du Mont Sion, gegen das Licht fotografiert.
Dahinter geht es wieder bergab in den Ort Mont Sion. Ich laufe mit langen und schnellen Schritten weiter nach Charly. Es ist aber keine Unterkunft offen. Ich klingele an ein paar Häusern, auf mein vorsichtiges Andeuten will jedoch niemand am Sonntag Spätnachmittag einen fremden, dampfenden Pilger aufnehmen. Ich bin froh, die Detailkarten dabeizuhaben. Für den Jakobsweg wird es nun zu dunkel. Ich habe zwar eine kleine Taschenlampe dabei, aber falls ich eins der kleine Symbole übersehen sollte, würde ich mich hoffnungslos in dieser dünnbesiedelten Gegend des Departement Haute-Savoie verlaufen. Muss also auf der Strasse laufen, zum Glück habe ich die Karte dabei (Carte de promenade, Nummer 51, Lyon-Grenoble, 1:100.000 vom Institut Géographique National, IGN). Das ist aber auch kein Zuckerschlecken. Zum einen habe ich bereits ordentlich Kilometer in den müden Beinen -ohne Pause unterwegs seit Genf-, zum anderen muss ich vor den doch recht vielen Autos von der holprigen, engen Strasse öfter in den Strassengraben flüchten. Die Autofahrer haben aber auch kaum einen Chance, mich rechtzeitig zu sehen. Einen Fussgänger vermuten sie hier um diese Jahres- und Tageszeit natürlich nicht. Contamine-Sarzin, 20 Uhr. Der Schweiss läuft mir aus den Ärmeln der Jacke. 1826km bis Santiago? Von Konstanz waren es laut Wegweiser 1950km, aber Konstanz ist 400km entfernt... Beim Laufen, was inzwischen wohl nicht mehr ganz so sportlich aussieht, komme ich an abgelegenen Höfen vorbei. Hunde kläffen dann oft fürchterlich laut. Sind Hofhunde in Frankreich eigentlich immer angeleint? Gibt es hier auch wilde Hunde? Der Wind frischt auf und wird nun stark böig. Ich laufe durch Wälder und über offene Wiesen, inzwischen abseits der grösseren Strasse auf kleinen Ortsverbindungswegen. Schon stundenlang ist es mittlerweile stockdunkle Nacht. Auf einmal lodert wenige Meter von mir entfernt aus dem nichts plötzlich einen Flamme vom Boden auf, ich erschrecke wie selten zuvor. Der Wind hat wohl ein Feuer angefacht, vielleicht haben Waldarbeiter Äste verbrannt, nun wurden die Reste schlagartig entzündet. Damit rechnete ich nicht unbedingt, der Schreck war ordentlich. Aber weiter, weiter, ich muss nach Frangy. Frangy, endlich Frangy! 21.15Uhr. Pensionen, Unterkünfte, Hotels, laut Reiseführer alles vorhanden. Ich werde lecker Essen gehen, ein Bier dazu trinken und dann ab ins wohlverdiente Bett. Meine Füsse kochen in den Stiefeln, ich dampfe buchstäblich. Nach einer elendig langen Zugangsstrasse zur Stadt gehe ich in die erste Pizzeria. Grosse Augen bei den wenigen Gäste. Dann grosse Augen bei mir. Sonntags sind Hotels, Restaurants und Pensionen und sonstige Unterkünfte geschlossen. Das ist jetzt aber ein Witz, oder? Nein. Der freundliche Wirt telefoniert durch die Gegend, erfolglos. Ich lasse das Gepäck zurück, soll hier an Türen klopfen und dort an Fensterläden. Nichts. Keine Tür geht auf. Ich humple zurück zur Pizzeria (eher eine Abholstation für den Pizzaservice) und esse was, bevor die auch dichtmachen. Grosses Mitleid der Gäste, sie spendieren mir Drinks. Ich bedanke mich und mache mich auf die Suche nach einer Schlafmöglichkeit. Es sieht aber auch damit schlecht aus hier, keine Scheune, kein Schuppen. Lege mich dann am Ortsausgang in einen Kellereingang. Windgeschützt, blickgeschützt morgen früh. Leider mit Bewegungsschalter des Lichts, bei jeder Drehung wird es hell. Immerhin, ich liege, und das nicht zu schlecht. Die Pizza und die Biere liegen mir wie Steine im Magen, der Kreislauf dreht noch nach Stunden auf Hochtouren. Das wird wohl nicht meine beste Nacht. Tag 8: Frangy (F)-Serrières-en-Chautagne (F), 6.5h, 7°CDie Nacht war recht unruhig, aber ich konnte immerhin einige Stunden schlafen. Die 3 mm dicke Isomatte ist allerdings doch etwas dünn. Nicht wegen dem Komfort, sondern der fehlenden Isolierung. Hatte in der Nacht noch die Fleecejacke und -hose auf die Matte ausgebreitet als weitere Isolierung gegen den Boden, dann ging es prima. Vor Jahren hatte ich so eine Matte auf einer langen Tramper-Reise mit einem Freund dabei, sie war damals ideal, allerdings waren wir damals in wärmeren Gefilden unterwegs. Bei Winterübernachtungen im Freien auf Beton kommt sie jedoch in den Grenzbereich, daher würde ich nun eine echte Isomatte vorziehen - aber natürlich keine zum Aufblasen, wegen dem grossen Gewicht. Ich werde später separat eine Packliste und Vorschläge zur Ausrüstung machen. Sehr angenehm in Frankreich sind die Bars, die morgens um 7 Uhr bereits geöffnet haben. Die Leuten halten auf dem Weg zur Arbeit, trinken ihren Café und diskutieren das vor-abendliche Fernsehprogramm oder lesen Zeitung.
Eine Bar ist an diesem Morgen mein erster Gang. Einen Grand Café. In er
Toilette etwas Wasser ins Gesicht und Zähneputzen. Noch einen Grand Café mit
einem Croissant. Der Tag ist gerettet. Frisch,
als wäre nichts gewesen, geht es weiter.
Desingy, 700 Einwohner. Im 19ten Jhd. wurden in Desingy noch 1500 Einwohner
gezählt. Das Bauerndorf erstreckt sich an malerischer Lage auf einem sanft nach
Norden geneigten Hang über dem Tal des Usses, östlich der Niederung des
Rhônetals, im Genevois. Die Kirche St.Laurent stammt aus dem 11. Jahrhundert,
ein schöner romanischer Chor ist erhalten geblieben.
Unterwegs, blauer Himmel. Eine Muschel am Eckpfosten zeigt, dass ich auf dem
richtigen Weg bin.
Es ist diesig in den Tälern. Heute werde ich die Rhône unten im Tal
wiedersehen. Sie entwässert den Lac Léman in Genf, ich habe sie dort gestern
morgen überschritten.
Es geht durch ruhige Wälder. Ein aufgeschrecktes, den Weg querendes Wildschwein
würde mich jetzt nicht wundern.
Im Kloster Fischingen hatte ich dieses Früchtebrot gekauft. Es ist so nahrhaft,
dass ich nur kleine Stücke essen kann und satt bin. Während ich sitze und esse,
läuft ein Fuchs in wenigen Metern vorbei, er bemerkt mich nicht.
Die Pferdekoppel ist so gross, dass ich das Ende davon nicht sehe. Das Leben
auf dem Land hat grosse Qualitäten.
Der Ort Vens (350 m ü.M.) auf einem Geländevorsprung zwischen der Rhône und dem
Fier. Hier steht eine der wenigen Marienbildstöcke, die ich in diesem Gebiet
sehe.
Der Fluss Rhône. Es wäre interessant zu wissen, ob ich das vorbeifliessende
Wasser gestern in Genf schon gesehen habe.
Nach Le-Puy-en-Velay sind es noch 290 km. Das rot-weiss Zeichen markiert den
GR65. GR steht für Grand Randonnée (Große Wanderung), 65 ist die Nummer
des Wegs. Der GR65 folgt dem Jakobsweg quer durch Frankreich nach St.
Jean-Pied-de-Port vor dem Übergang über die Pyrenäen im Baskenland.
Mit dem rot-weiss Zeichen sind in ganz Europa Fernwanderwege markiert. Man
könnte ohne weiteres dem Jakobsweg ohne Karte durch Europa folgen.
Der Weg ist gut ausgeschildert, auch Alternativrouten sind markiert. Ich laufe
momentan übrigens die Via Gebennensis, die von Genf bis
Le-Puy-en-Velay führt. Seit 1998 ist dieser Weg durchgängig markiert, die
Infrastruktur am Weg wird stets weiter ausgebaut.
Die Brunnenhäuser faszinieren mich, im Sommer sind sie wohl Treffpunkt oder
waren es zumindest früher. Einrichtung zum Wäschewaschen, Briefkästen zentral
für die umliegenden Häuser und ein Anschlagbrett für Neuigkeiten. Da die
Brunnenhäuser so gut unterhalten sind, haben sie wohl noch ihre soziale
Funktion.
Noch ein paar Kilometer bis Serrières-en-Chautagne, dann ist Schluss für heute.
Der Gewaltmarsch gestern Abend steckt mir doch noch in den Knochen. Ich gönne
mir heute eine nette französische Pension. Duschen, Wäschewaschen im
Waschbecken, dann ein kleiner Mittagsschlaf, herrlich!
Durch die Auen der Rhône, Uferabschnitte werden gerade renaturiert.
Leere Wegkapelle nach dem Aufstieg aus Chanaz. Wieviele Pilger mögen hier oder
in der Hütte über der Strasse schon übernachtet haben oder vor schlechtem
Wetter geflüchtet sein.
Im Vorfeld zum Camino habe ich Die Sterne von Compostela von Henri
Vincenot gelesen. Die etwas esoterische Geschichte eines französischen
Waldroder-Jungen im Mittelalter, der auf Umwegen dazu kommt, nach Santiago zu
pilgern. Die Roder hier versetzen mich in diese Zeit zurück, auch wenn die
Werkzeuge inzwischen effektiver sind.
Die Roder leisten ganze Arbeit.
Blick auf den Canal de dérivation du Rhône.
Ortseingang Vetrier.
Vetrier ist einer der viele kleinen Weiler, durch die der Jakobsweg geht. Für
mich ist ein Ort erst dann ein vollwertiger Ort, wenn er eine Bar oder ein
kleines Geschäft hat. Wobei zur Zeit wohl ein grosses Bar-Sterben in den
ländlichen Regionen Frankreichs grassiert.
Vraisin. Das Ortseingangs-Schild ist an einem Sackgasse-Schild befestigt.
Wehr am Canal de dérivation du Rhône.
Jongieux ist ein Weinort. Cru-Lage innerhalb der Appellation Vin de
Savoie mit Weißweinen aus Chardonnay und Jacquère sowie
Rotweinen aus Mondeuse, Pinot Noir und Gamay. (>Quelle:
http://www.wein-plus.de/glossar/Jongieux.htm)
In Frankreich sehe ich desöfteren Backhäuschen, die dem Anschein nach noch
benutzt werden. Ob sie gemeinschaftlich genutzt werden, ist mir nicht bekannt.
Ich treffe unterwegs auch kaum Menschen, die ich danach fragen könnte.
Croix Genot, nach dem Aufstieg durch die Weinberge von Jongieux.
Die Weinbauern schneiden um diese Jahreszeit die Reben bei. Ich bin überrascht
von ihren Rebscheren - pneumatisch betrieben, auf dem Rücken tragen sie den
Kompressor wie einen Rucksack. Bei diesen grossen Flächen ist das auch
angebracht.
Blick zurück vom Croix Genot oberhalb von Jongieux. Ich bin rechts an den
Hängen entlang gekommen.
La Chapelle de
St-Romain, mit Skulpturen neueren Datum. Der höchste Punkt für heute, etwas
oberhalb Croix Genot.
Erst lächle ich über den Hinweis: "Achtung! Dieser Weg führt an der
steil Küste entlang.
Bitte ziehen sie gute Wanderschuhe an. Seien Sie vorsichtig. Verlassen Sie
den Weg nie, passen Sie auf Ihre Kinder auf."
Dann verstehe ich, warum das Schild da steht. Ich wage es nicht, mir auszumalen
was passiert wäre, wenn ich da nachts entlanggehumpelt wäre wie vor Frangy
vorgestern.
Der Weg führt knapp neben der ungesicherten Kante entlang. Es geht senkrecht
runter, ich schätze 200 m tief.
Schwieriger und sehr steiler Abstieg, selbst bei Tag und Vollbesitz der Kräfte.
Dann geht es entlang der Rhône. Auf einmal zucke ich zusammen, ein Jogger
drückt sich an mir vorbei. Ich habe ihn nicht kommen hören, obwohl es fast
still ist, ausser dem Wind und dem Fluss ist nichts zu hören. Dann sehe ich,
warum ich ihn nicht haben kommen hören: er läuft in kurzen Hosen ... barfuss.
Bis zu den Knien mit Schlamm bespritzt, aber barfuss. Cool, die Franzosen.
Mein geplantes Ziel für heute, Yenne. Gemütliches Provinzstädtchen mit 2600
Einwohnern. Mal sehen, ob und wo ich unterkommen kann.
Die Kirche Notre-Dame de l' Assomption aus dem 12. Jhd. in Yenne.
Schöne Lichtspiele durch die alten, bunten Fenster. Baulich wurde
augenscheinlich viel verändert über die Jahrhunderte.
Die Ruhe und Ausstrahlung in solch einer Kirche ist eindrucksvoll.
Die Toten des ersten Weltkriegs sind in der oberen Tafel aufgelistet, rund 75
Tote. Die 10 Toten des zweiten Weltkriegs darunter. In Deutschland ist das
Verhältnis wohl 1:1.
Für Volk und Vaterland. Ob einer der Toten hier vielleicht einen der Toten auf
den Tafeln, die ich in Deutschland kenne, totgemacht hat?
Was für ein Wahnsinn.
Ich trinke ein Café in einer Bar, kaufe Lebensmittel für heute Abend. Im
Kapuzinerkloster komme ich nicht unter, es wäre meine erste Übernachtung in
einem Kloster. Ich bin etwas enttäuscht, ich komme vielleicht nicht wegen des
Schmutzes an meiner Hose und den Schuhen rein. Einen Gite gibt es nicht, dafür
kann in einem Hotel-Restaurant übernachten. Eigentlich ist es geschlossen, der
Besitzer kommt gerade aus dem Urlaub und öffnet offiziell erst morgen. Ich darf
trotzdem rein. Aber nichts mit Kochen hier, ich esse halt Brot mit Käse.
Es gibt einen Fernseher, den ersten seit meiner Abreise. Nichts interessantes.
Nichts verpasst.
Nach einer erholsamen Nacht und einem guten Frühstück geht es weiter, eiskalte
Luft begrüsst mich. Ich muss mich entscheiden für den GR65, der auf einem
kilometerlangen Grat auf rund 700 Hm verläuft, oder für eine Strecke über
kleine Feldwege, um dann den Col du Mont Tournier zu passieren. Da es hier so
kalt ist, und nach den Rutsch-Erfahrungen auch in den letzten Tage, ziehe ich
die Feldwege vor. Dafür werde ich durch einige abgelegene Weiler kommen.
Die Höfe wirken wie ausgestorben auf den ersten Blick. Wenn man aber näher
kommt, sieht man die Menschen emsig arbeiten. Holzspalten und Reparaturen sind
wie in alten Zeiten die Winterarbeiten der Bauern. Jetzt ist auch Zeit für
Waldarbeiten, die Böden sind etwas gefroren, die Maschinen versinken nicht bis
zu den Achsen im Morast.
Die Ruhe tut gut und ist äusserst entspannend. Ich frage mich ab, wie man nur
in einer Stadt wohnen kann, ohne verrückt zu werden. Leider wohne ich selbst in
einer.
Nichts stört, kein Lärm, kein Verkehr, nicht mal die in Deutschland und sowieso
in Holland allgegenwärtigen Flugzeuge, die inzwischen fast überall zu hören
sind.
Nur Eichelhäher schrecken auf und schlagen Alarm, wenn ich auf einen Ast trete
oder das Laub unter den Stiefeln raschelt.
Nach ein paar Stunden erreiche ich den Col du Mont Tournier. Die Wegwahl war
richtig, der auf der Höhe ankommende GR65 ist recht vereist. Am unangenehmsten
sind Pfade an Südhängen. Tagsüber taut die Sonne den Schnee oder das Eis an,
dass am Nachmittag dann wieder überfriert. Der Abstieg ins Rhônetal ist mühsam.
In Deutschland sieht man viele Bildstöcke mit figürlichen Darstellungen, in
Frankreich überwiegen Kreuze ohne Corpus. Dies kommt wohl durch die
Glaubenskriege zwischen den Katholiken und Protestanten, auf die ich später
etwas mehr eingehen werde.
An solchen Kreuzen liegen meist Steine, die durch Pilger abgelegt sind. Man
kann Steine mitnehmen und ein Stück mittragen bis zum nächsten Denk-Mal. Die
Tradition will, dass man einen Stein von unterwegs, oder noch besser von
Zuhause, bis zum Cruz de Ferro in Spanien mitnimmt, um ihn dort auf einem
mittlererweile grossen Berg aus kleinen und grösseren Steinen abzulegen.
Ich selbst habe keinen Stein dabei und lege auch keinen Stein unterwegs ab, das
ist mir zu archaisch. Ausserdem habe ich an meinem eigenen Körpergewicht von
96kg und der Ausrüstung genug zu tragen.
In der Gegend sehe ich eine Bautechnik, die mir so nicht bekannt war: Fertigbau
mit Lehmblöcken. Es wurden damit Häuser und Scheunen gebaut. Die Blöcke sind
30-40 cm dick, einen Meter hoch und rund zwei Meter lang. Sie werden mit Holz
gesteckt. Wenn man eine Aussparung braucht, kann man die im nachhinein
herausschlagen. Die Gebäude werden meist nicht verputzt. Das Raumklima in den
Gebäuden ist sicher angenehm, der Lehm puffert Feuchtigkeit und Wärme bzw.
Kühle im Sommer.
Chapelle de Pignieux mit drei Jakobsmuscheln auf der Fassade.
St-Genix-sur-Guiers. Es gibt Orte, die sind mir auf Anhieb sympathisch. Oder
eben nicht. St-Genix fällt leider in die zweite Kategorie. Von Yenne waren es
nun 25 km hierher, laut Reiseführer wäre das eine Etappe. Ich werde
weitergehen, auf Suche nach einem Ort mit Good Vibrations.
Am Ufer der Guiers entlang nach Romagnieu. Leider keine Unterkunft vorhanden.
La Bruyère, es fängt an zu dämmern, Nebel zieht auf. Ich muss das Tempo
anziehen, wenn ich nicht wieder in der Dunkelheit laufen will.
Schönes Vorbild der Lehm-Fertigbauweise.
Les Abrets, regionales Zentrum. Departement Isère, Regio Rhône-Alpes. Es ist
kurz vor 17 Uhr. Jetzt bitte eine Unterkunft. Das Ortsschild steht recht weit
ausserhalb, ins Zentrum ist es noch ein ganzes Stück. Ich gehe zur
Touristen-Information, die ist aber schon verschlossen.
Ein Mitarbeiter sieht mich stehen und öffnet die Tür. Es gibt hier keine
Unterkunft, die geöffnet hätte.
Er telephoniert eine Weile, an seinem Gesicht kann ich sofort sehen, wenn er
wieder eine Absage erhält.
Dann kann ich in einer Ferienwohnung unterkommen, das ist aber nett! Leider
einige Kilometer ausserhalb, sogar auf dem Weg, den ich gerade gekommen bin. Er
bietet mir an, mich dahin zu fahren. Es ist inzwischen dunkel. Da ich den Weg
zurückgefahren werde und morgen nochmals dasselbe Stück zu Fuss gehe, stimme
ich zu. Schnell mache ich ein paar Einkäufe, er wartet. Danke!
Bestandsaufnahme auf dem Bett: meine erste Blase auf dieser Tour. Nicht
schlimm, ich öffne sie mit einer Nadel und lasse sie ohne Pflaster über Nacht
trocknen. Ich entferne Blasen immer sofort wenn ich sie bemerke. Druck- und
Reibepunkte werden damit unterbunden.
Was ich nicht als kritisch wahrnehme, was aber kritischer ist, sind das
geschwollene Fussgelenk (A), und die Flecken (B). Ich reibe zwar das Gelenk
ein, aber ich hätte einen Tag mit kurzer Distanz einlegen sollen, Good
Vibrations hin- oder her. Von St-Genix-sur-Guiers nach Les Abrets waren es
auch nochmal 14 km, also auch heute wieder eine 40 km Etappe.
Die Flecken bekomme ich scheinbar durch Überhitzung des Fusses in den Stiefeln.
Es ist aber zu kalt um Pausen zu machen, die lange genug sind, um wirksam zu
sein. Ausserdem sind die Tage recht kurz und ich will (oder muss, wie in
Frangy) relativ grosse Distanzen gehen.
Ich trage Meindl Air Revolution 2.0, Leder-/Kunststoffstiefel mit Gore-Text
Membran. Die Schuhwahl ist mir im Vorfeld sehr schwer gefallen. Habe die Schuhe
rund 500 km eingelaufen über ein Jahr verteilt, bin mir aber immer noch nicht
sicher, ob es der richtige Schuh für mich ist.
Für heute mache ich mir weiter keine Gedanken darüber. Ich koche mir was,
trinke ein paar Büchsen Bier und schlafe selig ein.
Nachdem ich gestern Abend einige Kilometer auf der Strecke zurückgefahren
wurde, komme ich heute zum zweitenmal nach Les Abrets. Es ist ein ungemütlicher
Morgen, kalter Nebel mit wenig Sicht. Mal sehen ob sie Sonne durchkommt.
Valencogne im Département l'Isère und der Région Rhône-Alpes. Jakobsmuscheln im
6-er Pack. Und es gibt ein Café.
Heute habe ich ein eigenartiges Erlebnis. Normalerweise sind auf allen Wegen
bereits Spuren von Menschen, Tieren und Autos im Schnee oder Schlamm zu sehen.
Im dichten Nebel laufe ich von einem Weg wie im Bild über einen kleinen
Seitenpfad einen Hügel hoch. Plötzlich fällt mir auf, dass hier keine Spuren zu
sehen sind. Ausser der Spur von einem einzelnen Hund, der dieselbe Richtung
läuft wie ich. Dem Abdruck nach muss er unglaublich grosse Pfoten haben. Der
Nebel wird sehr dicht, ich kann kaum 10 m weit sehen.
Da wird es mir doch etwas mulmig. Ich schneide mir einen langen, dicken Stock
aus einem Gebüsch am Pfad. So stapfe ich mit dem schweren Stock durch den
Schnee.
Nach einer Viertelstunde, in der Spur der riesigen Pranke laufend, komme ich
wieder auf einen Hauptweg. Nichts zu sehen von einem Hund, dafür wieder jede
Menge Spuren, wie immer.
Ich werfe den Stock weg und denke an die Seemänner, die felsenfest behaupten,
Ungeheuer gesehen zu haben. Ich bin versucht, ihnen zu glauben.
Der Wind bläst Schnee und Reif vom Nebel zentimeterdick auf kleinste Flächen.
Le Grand-Lemps. Bei dem tristen Wetter verliere ich das Gefühl für Raum und
Zeit. Nur an den Füssen merke ich, wie lange ich heute schon unterwegs bin.
Chemin de Compostelle - die Strasse nach Compostela.
Ein gemütliches Cheminée, ein Kaminfeuer, wäre eine der Jahreszeit
entsprechende Massnahme, der ich jetzt nicht abgeneigt wäre. Wer weiss,
vielleicht heute Abend? Oder gar ein Bad, das wäre auch fein.
Keine Unterkunft zu finden. Es wird sehr schnell Dunkel heute, durch den Nebel
gibt es kaum einen Übergang vom Nachmittag in den Abend. Laut Reiseführer gibt
es einen Gite de Groupe (Gruppenunterkunft) in Montgontier, einem
landschlossartigen Gehöft. Tatsächlich finde ich den Gite. Die Tür ist offen,
warme Räume, dutzende Etagenbetten.
Aber niemand da.
Ich rufe und klingle in dem ganzen Anwesen. Überlege schon, mich einfach
einzunisten, gehe dann aber doch nochmals auf die Suche nach einem
Herbergsvater oder einer Herbergsmutter. Und dann finde ich sie, in einer
Wohnung unter dem Dach.
Ob ich übernachten kann im Gite. Non. Bitte? Non, fermé. Ich bin
perplex. Dann werde ich richtig sauer und fange an zu schimpfen. Es entwickelt
sich eine Diskussionsart, wie man sie aus Bierzelten nachts um 3 Uhr kennt. Der
Herbergsvater auf Französisch, ich auf Deutsch, wir verstehen kein Wort von
einander. Nach einigen Minuten zieht die Herbergsmutter den Mann zur Seite und
redet auf ihn ein. Dann sagt sie zu mir in bestem Deutsch, dass ich bleiben
könne.
Aber nicht in einem der (sauberen) Etagenbetten.
Nachdem ich bezahlt habe, kriege ich ein Zimmer unter dem Dach, bei dem sich
die Tapeten abrollen. Ein Staubsauger war wohl zuletzt 1980 in dem Zimmer. Puh,
ist das ekelig. Möglichst ohne direkte Berührung irgendwelcher Gegenstände im
Raum esse ich Brot und Käse, dazu Wasser aus meiner Flasche. Kein Kaminfeuer
... kein Bad.
Was habe ich heute eigentlich verbrochen, womit habe ich das verdient? Ich bin
kaputt, schlafe tief und fest.
Der Nebel ist heute nicht mehr ganz so dicht. Es wird jedoch immer noch den
ganzen Tag bedeckt sein, so wie es aussieht. Durch die hohe Luftfeuchtigkeit
ist es unangenehm kalt, die Kälte legt sich wie ein Schleier auf die Kleidung,
auf die wenige Haut, die nicht bedeckt ist.
Ah, wie schön! Ich entdecke in einem kleinen Dorf eine warme Bar, in der ich es
lange aushalten würde. Viele der LPs an der Wand sind Raritäten, ich könnte
tagelang darin stöbern.
Ein Brunnenhaus, in einem speziellen lokalen Stil gemauert. Grosse Kieselsteine
werden schräg geschichtet, abwechselnde Reihen nach links und rechts. Der Teil
zum Waschen der Wäsche ist hier aus Holz gebaut, mit einer Halterung, um die
nasse Wäsche zum ersten Austropfen aufzuhängen.
Faramans im Département Isère, Region Rhône-Alpes. Die Einwohnerzahl
stieg in den letzten 30 Jahren um 50%, auf nun 750. Die Einwohnerdichte ist
hier 68 Einwohner pro km2. Zum Vergleich, in Deutschland ist die Dichte gemittelt 231 Einwohner
pro km², in Holland gar 393 Einwohner pro km².
In der Eglise (Kirche) Saint Romain im Ort Pommier-de-Beaurepaire.
Ich bin mir anfangs nicht sicher, ob diese Figur eine Veräppelung ist. Ich muss
laut lachen, als ich bemerke, an wen sie mich erinnert. Sie hat Ähnlichkeit mit
Krusty the Clown von den Simpsons.
Später sehe ich dieselbe Figur jedoch öfters. Es handelt sich um St. Jean Vianney,
den Pfarrer von Ars. Er ist der Patron der Pfarrer. Er hatte grosse
Problem mit dem Lernen, ein hartes Leben und viele Zweifel an seinem Beruf. Er
war aber über alle Prüfungen hinweg beständig und dadurch bei seiner Gemeinde
sehr beliebt.
Unterwegs im breiten Tal der Dolon.
Das Eis und der Schnee legen sich über das Land und verzaubern es. Caspar
David Friedrich hätte sicher auch seine Freude.
Später lese ich über die Gegend "der Weg nach Revel-Tourdan bietet sehr
oft weite Ausblicke in die von der letzten Eiszeit geprägte Ebene von Geoirs".
Man kann nicht alles haben.
Ich bin rechtzeitig in Revel-Tourdan, um noch auf das Bürgermeisteramt zu
gehen. Sie vermitteln mir eine Unterkunft in einem Haus mitten im Dorf, das mir
bei der Ankunft schon aufgefallen ist. Es sieht mittelalterlich aus, war sicher
das Haus eines reichen Adeligen. Der Hausherr holt mich ab (zu Fuss) und begrüsst
mich herzlich. Fantastisches Haus, schön umgebaut, er hat alles selbstgemacht.
Nein, er sei kein Nachfahre reicher Kaufleute, er schmunzelt auf diese Frage.
Er sei ein -momentan arbeitsloser- IT-Manager aus Grenoble mit Hang zu
ländlichem Leben.
Wir essen und trinken lokale Spezialitäten, im Cheminée knistert das Feuer. Was
für ein Genuss!
Blick aus meinem Fenster in die Abenddämmerung.
Der freundliche Maître de la Maison an seiner gotischen Haustüre.
Heute pfeift ein bitterkalter Wind aus Nord-West. Auf Höhenlagen bläst er mir
genau zwischen den Rücken und den Rucksack, was recht unangenehm ist. Der
Nacken und Rücken werden schnell auskühlt, prompt gibt es Verspannungen.
Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich der Hochsitz eines Jägers ist. Die
mir aus heimischen Wäldern bekannten Hochsitze sehen anders, fast luxuriös
dagegen aus. Eine Futterstelle ist es nicht, ich finde kein Futter darunter.
Nach einem langen, ermüdenden Marsch durch weite Wälder und über zugige Höhen
komme ich nach Auberives-sur-Varèze. Hier hat sich die Einwohnerzahl in
den letzten 40 Jahren verdoppelt. Ich nähere mich langsam dem Ballungsraum
Lyon, wobei von der Stadt weiter nicht viel zu spüren ist. Nur die
Neubaugebiete der Orte werden grösser.
Clonas-sur-Varèze. Es geht eine Klippe hinunter in den Ort. Die Rhône,
im Hintergrund zu erahnen, hat ein breites Tal ausgefräst.
Endlich finde ich auch eine offene Bar und trinke einige Cafés. Ich fühle mich
inzwischen doch recht matt. Heute ist Samstag, morgen werde ich einen Ruhetag
einlegen, meinen Ersten. Habe in einem Bericht von einem Pilger gelesen, dass
er jeden Sonntag einen Ruhetag einhielt. Das scheint mir eine gute Idee zu
sein, es geht ja nicht darum, schnellstmöglich in Santiago zu sein. Den Körper
ausruhen und den Geist reflektieren ist sicher wertvoll.
Mal sehen wie das morgen ist, ich freue mich darauf.
Aber soweit ist es noch nicht. Ich möchte zuvor die Rhône überqueren, um in
Chavanay zu übernachten.
Vorher passiert aber wieder eine Spezialaktion, das gehört bei mir scheinbar
dazu. Während ich durch Clonas-sur-Varèze laufe, steigt linkerhand aus dem
Dunst eine grosse Anlage auf, die sich als Atomkraftwerk entpuppt. Die
Franzosen sind ja bekanntlich diesbezüglich etwas unbedarfter - und die
Deutschen kaufen dann den günstigen Atomstrom, machen aber offiziell auf Öko.
Als ich das Foto oben mache, heulen auf einmal Feuerwehrsirenen in
Clonas-sur-Varèze los. Dann brausen einige Feuerwehrwagen aus dem Ort in
Richtung AKW und verschwinden im Dunst. In wenigen Augenblicken male ich mir
alle Szenarien aus. Es gibt nur eine Alternative: Ich bin zu Fuss unterwegs,
einen Kilometer von einem AKW entfernt, zu dem Feuerwehrautos rasen. Vor mir
die Rhône, um mich herum ein paar Dörfern, ansonsten verschneite Felder und
Wälder. Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als weiterzulaufen, zu tun als
wäre nichts passiert und abzuwarten.
Das AKW ist jedenfalls nicht explodiert. Ob ein Unfall vorlag oder eine Übung,
konnte ich nie in Erfahrung bringen.
An der Brücke über die Rhône. Ich verlasse das Département Isère und sehe zum
dritten Mal in wenigen Tagen die Rhône.
Auf der Brücke über die Rhône. Der Wind bläst so stark, dass ich erstmals
meinen Hut abnehmen muss, um ihn nicht zu verlieren. Gegen die Kälte trage ich
ein Stirnband unter dem Hut, um das ich jetzt besonders dankbar bin.
Ohne Beschilderung hätte ich die Rhône nicht wiedererkannt. Sie hat seit Yenne
ein Vielfaches an Wasser dazu gewonnen. Sie dürfte bereits jetzt ein Volumen
haben wie der Niederrhein. Aber sie ist ja auch der wasserreichste, und mit 812
km der zweitlängste Strom Frankreichs.
Blick auf Chavanay, im Département Loire weiterhin in der Région Rhône-Alpes.
Der Ort liegt auf 155 Hm, in den kommenden Tagen wird es in höhere Lagen gehen.
Chavanay ist Partnerstadt von Buchholz in Deutschland. Buchholz ist ein
Ortsteil von Waldkirch, einem Ort im Breisgau in Baden-Württemberg, 20 Km von
Freiburg im Breisgau entfernt.
Auf dem linken Standbein des Schildes sieht man übrigens ein X aus einem roten
und einem weissen Balken. Das ist eine Form des GR65 Zeichens und bedeutet,
dass der Weg nicht geradeaus geht.
Zwei Stunden lang habe ich eine einigermassen gute und bezahlbare Unterkunft in
Chavaney gesucht, bin jedoch nicht fündig geworden. Dann muss ich eben noch
etwas weiter gehen. Wie inzwischen üblich in dieser Situation mit schnellerem
Tempo, um nicht in der Dunkelheit laufen zu müssen.
Chavaney wäre ein schöner Ort gewesen um einen freien Tag zu geniessen. Der
Vorfall am nahen AKW steckt mir jedoch in den Knochen, vielleicht ist es besser
weiterzuziehen.
Bei Einbruch der Dunkelheit komme ich nach Bessey auf 400 Hm. Leider ist
der Gite geschlossen. Nach einiger Fragerei werde ich zu einer
Übernachtungsmöglichkeit in einem Kilometer Entfernung geschickt. Hier kann ich
unterkommen, das Wochenende ist gerettet!
Ein fürchterliches Schreien reisst mich gestern Abend aus dem Halbschlaf. Ich
hatte geduscht nach meiner Ankunft und mich für ein paar Minuten auf das Bett
gelegt, bevor ich mir etwas zu Essen machen wollte. Es hörte sich an, als ob jemand
mit der Hand in heisses Öl getaucht wurde. Jedenfalls dachte ich im ersten
Moment an so etwas. Dann wieder. Was ist denn da los?
Meine Unterkunft ist ein Anbau mit zwei Etagenbetten neben einem Heim für
betreutes Wohnen geistig Behinderter. Ich gehe rüber, vielleicht ist etwas
passiert und ich kann helfen. Ich komme in die Küche. Nichts zu sehen, alle
sind friedlich, basteln etwas oder unterhalten sich.
Dann wieder dieser Schrei. Eine der Bewohnerinnen, eine kleine Frau von rund 30
Jahren, hat mich gesehen und schreit mich mit ungeheurer Lautstärke an. Die
Betreuerin nimmt mich am Arm und sagt der Frau, dass ich ok sei. Sofort ist sie
wieder ruhig, und alle sind vertieft in ihre Tätigkeiten, als ob nichts gewesen
sei. Ich werde somit aufgenommen und bin von nun an bis Montag Morgen Teil
dieser illustren Familie.
Blick auf Bessey. Ich gehe gegen Mitttag etwas spazieren, um den
Kreislauf wach zu halten und die Muskeln und Gelenke zu lockern. Ein Restaurant
hat offen, sie bieten ein Pilgermenü an, das passt ja. Für den Rest des Tages
lese und schlafe ich. Das Wetter ist immer noch diesig, gerade recht für einen
Tag Auszeit.
In der Küche gibt es abends Pizza, jeder darf nach Möglichkeiten helfen und
sich die Pizza belegen. Ich werde eingeladen und darf mitessen.
Abends höre ich noch ein paar mal die Schreie, empfinde sie aber schon fast als
normal.
Ich bewundere die Betreuerinnen und zolle ihnen höchsten Respekt. In meinen
Augen laufen sie jeden Tag mindestens nach Santiago und zurück.
Der Ruhetag hat gut getan, ich freue mich auf die Etappe heute. Der Körper hat
sich soweit erholt, nur die Füsse machen mir doch ein bisschen Sorgen, die
Schwellung der Gelenke ist nicht wesentlich zurückgegangen.
Ich bin früh unterwegs, der Schulbus fährt über das Land und sammelt die Kinder
ein. Es muss ein guter Tag werden, wenn man morgens schon Richtung Paradis
läuft.
Und in der Tat lichtet sich der Himmel und die Sonne kommt zu Vorschein!
Ein Erlebnis, mal wieder Fernsicht zu haben und zu sehen, in was für einer
schönen Gegend man läuft.
Der Schlamm auf den Wegen und der Schnee sind hartgefroren. Der Wind der
letzten Tage hat sich zum Glück gelegt.
Allerdings zieht sich nach wenigen Stunden der Himmel wieder zu, es sieht nach
Schneefall aus.
Col de Banchet, eine Anhöhe zwischen St-Julien-Molin-Molette und
Bourg-Argental.
Nach dem Col de Banchet geht es runter in einen Talkessel, Bourg-Argental liegt
darin.
Bourg Argental liegt auf der Route nach Le-Puy-En-Velay vor einem
Passübergang mit 1083 Hm. Suc des Trois Chiens daneben geht auf 1365 Hm.
Schwerverkehr führt durch die engen Strassen des Provinzstädtchens. Die
Grosstadt Saint-Étienne ist 30 km entfernt im Nord-Westen.
Die Kirche Saint-André im Ortszentrum, der Verkehr quält sich daran vorbei.
Die Kirche hat ein sehr schönes Portal mit Tympanon aus dem 12. Jhd. mit einer
Darstellung des Hl. Jakobus und Pilgern.
Wer kennt dieses Bild nicht, es hängt in fast jedem Gasthaus mit
gutbürgerlicher Küche. An diese Situation muss ich denken, in weitaus
positiverem Kontext natürlich, als ich beim langen Aufstieg den Forêt de
Taillard hinaufgehe. Auf einmal sind Schritte zu hören, dann sehe ich zwei
Personen im Schnee den Wald herunterstapfen.
Mir kommen zwei Pilger entgegen!
Grosse Überraschung. Keiner rechnet damit dass gerade hier, mitten im Wald,
andere Pilger entgegen kommen könnten. In meinem Fall sind es sogar die ersten
Jakobspilger, die ich überhaupt sehe. Zwei braungebrannte, heitere Menschen. Er
heisst Raul, ihr Namen ist mir leider entfallen.
Sie sind im August letzten Jahres von Antwerpen in Belgien losgelaufen nach
Santiago. Am 6.ten Dezember, heute vor zwei Monaten, sind sie dann in Santiago
zum Rückmarsch aufgebrochen via Genf. Sie wird in Genf bleiben bei Familie, er
wird weiterlaufen, zurück nach Antwerpen.
Sie warnen mich noch vor dem morgigen Tag, der auf sehr vereisten Wegen führen
soll und einer ihrer schwierigsten Etappen gewesen sei. Dann verabschieden wir
uns, Ultreia!
In den nächsten Wochen werde ich noch öfter ihre Namen in den Pilgerbüchern
finden, die in Kirchen und Gites in Frankreich ausliegen.
Wenn ich ungefähr in ihrem Tempo laufe, bin ich also in rund zwei Monaten in
Santiago, um den 10. April.
St-Sauveur-en-Rue an der Passtrasse. Ich denke, dass ich zur Passhöhe
muss, knapp unterhalb des Nebels, der von hier zu sehen ist.
Der Wald sieht wunderbar aus. In der Nähe sind Waldarbeiter zu hören, mit
Kettensägen und schwerem Gerät.
Hier kreuzen sich der GR7 und der GR65, auch der GR42 führt durch diese Gegend,
ich muss also gut auf die Markierungen achten. Nun bin ich im Nebel, dann kann
es wohl nicht mehr all zu weit sein.
Der Schnee wird tiefer...
... und der Nebel dichter.
Bei dieser Bildgrösse kommt es vielleicht nicht ganz zur Geltung. Die gelbe
Flechte am Stamm des Baums leuchtet in der ansonsten weissen Fläche.
Les-Setoux, ein kleines Bauerndorf auf 1142 Hm. Ich bin froh, endlich
angekommen zu sein. Bei diesem Nebel möchte ich mich nicht verlaufen in dem
grossen Waldgebiet. Das ist mir bisher zum Glück erspart geblieben. Zur
Sicherheit hab ich auch einen Kompass dabei und orientiere mich bei dieser
Witterung regelmässig auf der Karte. Im (echten) Gebirge habe ich schon
Wetterlagen und -umstürze erlebt, die eine Orientierung nahezu unmöglich
gemacht haben, auch mit Kompass und Karte.
Körperliche Erschöpfung und Müdigkeit sind dabei Faktoren, die man nicht
unterschätzen sollte. Man muss sich den ganzen Tag auf den Weg konzentrieren.
Teilweise sind die kleinen Muschel-Symbole oder die rot-weissen Wegmarkierungen
verschneit, teilweise am Boden auf Steinen angebracht. Im Sommer prima zu
sehen, jetzt unsichtbar.
Essen und Bett. Genau das , was ich jetzt brauche. Der Gite hat tatsächlich
ganzjährig geöffnet, wie es im Reiseführer steht. Ich erhalte ein Bett in einem
Gemeindegebäude. Ob es mir was ausmache, wenn noch jemand im Zimmer schläft?
Nein, natürlich nicht. Später kommt ein rund 25-jähriger Waldarbeiter, Fahrer
der Holzmaschine, die ich heute Nachmittag gehört habe. Er ist sehr stolz auf
seine Arbeit. Er kommt aus St-Étienne, schläft die Woche über im Gite, am
Wochenende fährt er nach Hause.
Essen will er nicht mit mir gehen, er kenne die Karte auswendig. Menu du
jour, Tagesmenü aus französischer Hausmannskost mit viel Vin de Pays,
dem roten Tafelwein.
Die Nachtruhe ist mir sicher.
Nach einer erholsamen Nacht in einem etwas zu kurzen Bett gehe ich zum
Frühstücken ins Gasthaus. Brot, Kaffee und Kuchen. Meist frühstücke ich ein
Stück Brot mit Honig in der Unterkunft und trinke unterwegs dann einen Kaffee.
Heute also ein richtiges Frühstück. Gestern Abend und heute Morgen bin ich der
einzige Gast und wurde gut und mehr als ausreichend versorgt. Ich bedanke mich
bei der Wirtin, die auch den Gite betreut.
Voller Elan geht es in die Kälte auf den Weg. Am Brunnen links im Bild fülle
ich noch meine Wasserflasche.
Die Sonne zeigt sich heute Morgen von der besten Seite mit schönen Farbspielen.
Die Luft ist eisig kalt. Im Gegensatz zu den letzten Tagen ist es eine trockene
Kälte. Ich empfinde sie nicht als unangenehm kalt, da sie nicht in alle Ritzen
kriecht wie der kalte Nebel. Bei diesem Wetter hat man meist eine sehr gute
Fernsicht, so auch heute.
Das meinte Raul gestern wohl mit schwierigen Wegverhältnissen. Der Weg ist
komplett vereist und unbegehbar. Auch der Schnee am Rand linken Wegrand ist
total durchgefroren. Es bleibt mir nach einigen Versuchen nichts anderes übrig,
als rechts über den Stacheldraht zu klettern und im Tiefschnee zu laufen.
Hier trügt der Schein, der Weg ist auch vereist. Die dünne Schneeschicht
verdeckt teils die Eisstellen. Das Eis ist vom durchfrorenen Schlamm machmal
ganz braun und als solches nur schwer zu erkennen.
Es ist trotzdem herrlich, hier zu sein bei dieser Stille. Manchmal höre ich in
der Ferne die Waldarbeiter, ansonsten ist es ganz ruhig.
Es geht durch ausgedehnte Wälder, in tieferen Lagen sind die Bäume schneefrei.
So ähnlich waren wohl die Gebiete, in die sich Eremiten zurückgezogen haben, um
alleine zu leben im Einklang mit den Natur.
Eine alte Mühle im Talgrund, wahrscheinlich eine Sägemühle. Wasser und Holz
sind genügend vorhanden.
Dann wird es wieder neblig. Nachts wäre es wohl schwierig hier zu laufen. Eine
Wegmarkierung übersehen, und man könnte ohne weiteres stundenlang im Kreis
laufen, ohne es zu bemerken.
Ein Wegekreuz, sogar mit niedergelegten Blumen. In Deutschland sind die
schlichten Kreuze am Weg oft Sühnekreuze oder Mordsteine, in
Frankreich werden sie wohl eine ähnliche Funktion haben.
"Sühnekreuze sind Denkmale mittelalterlichen Rechts. Sie waren ein Erfüllungsteil
von Sühneverträgen, welche zwischen zwei verfeindeten Parteien geschlossen
wurden, um eine Blutfehde wegen eines begangenen Mordes oder Totschlages zu
beenden. Der überwiegende Teil der Sühnekreuze ist in Kreuzform gestaltet,
oftmals ist die Mordwaffe bzw. ein berufstypisches Gerät des Entleibten in den
Stein gehauen. In den seltensten Fällen finden sich eingeschlagene
Jahreszahlen. Text findet sich auf keinem echten Sühnekreuz aus dem 13.-16.
Jahrhundert. Der einfache Bauer hätte es ohnehin nicht lesen können, weshalb
Bilddarstellungen dominierten. Mit der Einführung der Halsgerichtsordnung
Kaiser Karls V. im Jahre 1533 wurden private Abmachungen nicht mehr geduldet,
an ihre Stelle trat das ordentliche Gericht, das den Täter nach dem neuen Recht
verurteilte. Mit der Einführung dieses neuen Rechtes wurden die Sühneverträge
zwar offiziell abgeschafft, lebten jedoch je nach Landessitte noch durch das
ganze 16. Jahrhundert fort; erst das 17. Jahrhundert räumte mit ihnen endgültig
auf." (Quelle http://www.suehnekreuz.de)
Stilleben.
Eine Fahrradspur! Viele Pilger machen den Jakobsweg mit dem Fahrrad. Ob es um
diese Jahreszeit Fahrradpilger gibt?
Pferde stehen auf der Weide, ich kann von hier nicht ihre Rasse erkennen. Es
wird sicher eine einheimische Rasse sein, kälteunempfindlich und nicht
ängstlich.
Tence, Département Haute-Loire, Région Auvergne, 2900 Einwohner.
Zuvor bin ich durch Montfaucon-en-Velay gekommen, habe dort in einem
Café die Wegplanung gemacht für heute und morgen. Wenn ich es heute weiter als
Tence schaffe, kann ich wohl morgen nach Le-Puy-enVelay gehen. Dort werde ich
eine Pause einlegen und mir in Ruhe die Stadt anschauen.
Tence ist ein schöner Ort, ich überlege, ob ich nicht bleiben soll für eine
Nacht. Ich enscheide mich aber dafür weiterzugehen. Die Strecke von hier nach
Le-Puy ist zu gross für eine Etappe und zu klein für zwei.
Im Nachhinein wird sich diese Planung als Fehler erweisen.
Die erste Karte ist nun durch, ich benutze nun die Karte Nummer 50 (Carte de
promenade, St-Étienne - Le-Puy-En-Velay, 1:100.000 vom Institut Géographique National, IGN).
Tence vom Fluss Lignon aus.
Danach steigt der Weg wieder aus dem Tal heraus. Meine Füsse schmerzen etwas
und ich bin müde. Es waren neben der reinen Distanz auch einige Höhenmeter
heute, die sitzen mir in den Knochen. Von hier noch rund zehn Kilometer zu
gehen. Das Ziel ist St-Jeures, ein ganzjährig geöffneter Gite. Es ist jetzt kurz
nach 15 Uhr. Je nach Wegbeschaffenheit schaffe ich rund 4 Km in der Stunde. Ich
wäre gerne vor 17 Uhr dort, damit auf jeden Fall jemand anzutreffen ist. Also
Tempo anziehen.
Es wird kälter, der Wind frischt auf.
Le croix de Couvet lautet die Inschrift. Das Kreuz von Couvet am Chemin
de Saint-Jacques de Compostelle, dem Jakobsweg.
St-Jeures! Ich schwitze und dampfe, freue mich darauf auszuruhen.
Das kleine Schild an der Tafel entgeht mir nicht. Verbotsschilder auf
Ortstafeln sind mir als geschichtsbewusstem Germanen nicht sonderlich
sympatisch, auch wenn ich sie nur dem Sinn nach verstehe.
Stationnement des Nomades
Le Stationnement des nomades est interdit sur L'ensemble de la Commune. Une
aire a été spécialement aménagée au FANJARO Route d' YSSINGEAUX.
Ich fühle mich momentan den Nomaden und Vagabunden recht
wesensverwandt. Na, schau'n wir mal was hier für eine Stimmung herrscht.
Die Herbergsmutter des Gite führt ein kleines Lebenmittel-Geschäft. Ich
stolpere in den Laden und frage, ob ich den Schlüssel haben dürfte. Non,
ferme. Nicht schon wieder so eine Aktion wie in Montgontier, aber sie
bleibt dabei. Ich schaue auf die Uhr, ein paar Minuten vor fünf. Heute schaffe
ich es nicht, nochmals eine halbe Etappe dranzuhängen. Über der Strasse ist le
Mairie, das Bürgermeisteramt. Zum Glück ist noch einen Dame da. Ich
schildere die Situation und stelle ihr dar, dass ich nicht in den Gite darf und
dass es für mich nicht möglich sei, heute noch weiterzugehen. Weiter hinten im
Ort wäre noch eine Unterkunft, meint sie und hofft mit einem Blick auf die Uhr,
dass ich gehen würde. Ich bitte sie, dort anzurufen, was sie dann auch tut.
Niemand nimmt ab. Dann meint sie, ich solle es nochmals beim Gite versuchen,
die Herbergsmutter müsse mich reinlassen. Ich mache ihr klar, dass ich
zurückkomme und bei ihr vor der Amtsstube schlafe, wenn der Gite für mich
verschlossen bleibt. Als ich gehe sehe ich noch, dass sie den Hörer abnimmt.
Sie ruft sicher die Herbergsmutter an.
Als ich in den Laden komme und nochmals höflich frage, darf ich auch
tatsächlich übernachten. Zum Dank kaufe ich, für meine momentanen Verhältnisse,
ordentlich ein.
Ein Dach über dem Kopf zu wissen ist eine feine Sache. Manche Dinge muss man
von Zeit zu Zeit vermissen, um ihren Wert zu erkennen. Als wir in den Gite
kommen, bin ich begeistert. Es ist zwar kalt, aber es gibt einen offenen Kamin
und sogar Feuerholz. Die Herbergsmutter möchte das Feuer anmachen, beginnt auch
den Boden etwas zu fegen und Tische zu rücken. Daher wollte sie wohl nicht
aufmachen. Ich helfe ihr und übernehme das Feuer. Als sie geht, lächelt sie
sogar kurz.
Erstmals habe ich eine Küche zur Verfügung. Ich brauche Aufbaunahrung, habe mir
Spaghetti Bolognese gekocht. 250g Spaghetti, 200g Hackfleisch, 1 Zwiebel,
ein paar Zehen Knoblauch und eine Flasche Wein. Der Abend gelingt.
Der Schlaf danach allerdings weniger. Ich schlafe zwar gut ein, habe ja auch
die nötige Bettschwere und Müdigkeit. Dann wache ich aber auf und liege lange
wach. Der Bauch ist zu voll, die Füsse schmerzen.
Heute kommt nochmals eine langer Tag, dann bin ich an meinem ersten Ziel,
Le-Puy-en-Velay. Ich habe drei Ziele, die ich gerne sehen möchte und auf die
ich mich freue:
1. Le-Puy-en-Velay, weil es der historische Sammelpunkt der Pilger aus
dem süddeutschen Raum und der Ländern an den Alpen ist.
2. Burgos, weil es eine fantastische Kathedrale hat. Burgos ist für mich
so unvorstellbar weit weg zu Fuss, das es schon fast irreal scheint, dorthin
laufen zu wollen. Und wenn man dort ist, ist es nur eine Zwischenstation.
Dieser Gedanke fasziniert mich.
3. Leon, weil es einen schönen Namen hat - und eine ebenfalls schöne
Kathedrale.
Zu Santiago de Compostela selbst habe ich noch kein inneres Verhältnis oder
Erwartungen, ich habe mich darüber auch nicht speziell informiert. Ebensowenig
über die anderen Orte dazwischen. Das möchte ich mir aufsparen für eigenes
Erleben. In der Vorbereitung war mir eher wichtig, wie ich mich geistig
einstellen muss, um den langen Weg laufen zu können. Auch, wie wir als Familie
mit kleinen Kindern eine lange Trennung schadlos überstehen. Schliesslich war
mir die Ausrüstung sehr wichtig. Ich will beispielsweise kein Risiko eingehen,
mir wegen mangelhafter Schuhe ernsthafte Fussprobleme einzuhandeln oder mir
wegen schlechter Kleidung eine Lungenentzündung zu holen.
Alles andere wird sich weisen.
Die Landschaft verändert sich, wird schroffer.
Die Landschaft des Velay ist vom Vulkanismus geprägt. Ich denke die
ersten Zeugen davon vor mir zu haben und vermute einen Krater unter der
Waldkuppe.
Araules, Région Auvergne, Département Haute-Loire. Ich bin sehr früh
unterwegs an diesem Tag, alles im Ort ist noch geschlossen.
Santiago1551 km. Die Kilometerangaben scheinen nun konsistent zu sein und
stimmen mit meinen Schätzungen überein.
Einsame Gehöfte unterwegs. In den meisten Orten und Höfen sind Hunde, die gerne
und ausgiebig Passanten anbellen. Die meisten sind jedoch angeleint oder
bleiben in ihren Höfen. Nur selten streunen Hund oder sind auf der Strasse
ausserhalb der Höfe. Ich habe bislang keine Probleme mit den Hunden gehabt, bin
jedoch vorsichtig.
Es muss kalt gewesen sein in letzter Zeit mit vielen Schneefällen. Der Schnee
ist knietief, sobald ich die Spur verlasse.
Ich habe mich auch erstmals verlaufen. Vier Hunde von zwei
nebeneinanderliegenden Gehöften rauben mir kurz nach dem Hof im vorhergehenden
Bild die Aufmerksamkeit. Sie kommen von ihren Höfen angerast und steigern sich
dermassen hinein in ihre Drohgesten, dass ich vor lauter links- und
rechtsdrehen den falschen Weg einschlage. Hunde haben eine interessante
Jagdstrategie. Sie verteilen sich auf alle Seiten, einer kommt dann von hinten,
mit etwas weniger Gekläffe als der von vorne. Sie kamen nicht näher als einen
halben Meter an mich heran, allerdings mit viel Zähnezeigen und Haarestellen.
Ob dieser Sicherheitsabstand an meinem Gebrüll oder einfach dem Respekt vor
Menschen lag, weiss ich allerdings nicht.
Um nicht nochmals an den Kötern vorbeizumüssen, gehe ich eine vermeintliche
Abkürzung um auf den richtigen Weg zurückzufinden. Es kostet mich dann jedoch
eine halbe Stunde, den Weg zu finden. Und viel Kraft, durch ungespurten Schnee
zu stapfen.
Heute komme ich über den höchsten Punkt der Via Gebennensis und quere den
Gebirgszug Massif du Meygal.
Der Pass am Ort Raffy hat 1276 Hm, ein Skilanglaufgebiet.
Der Pass liegt hinter mir. Mit meinem rechten Fuss stimmt etwas nicht. Beim
Heben des Fusses habe ich einen dumpfen Schmerz im Schienbein und Fussgelenk.
Ich versuche, mit Schonstellung beim Gehen dem Fuss etwas Ruhe zu gönnen. Nach
Le-Puy hin geht es ja nur noch bergab, tröste ich mich. Dass die Landschaft
sehr profiliert ist, verschweige ich vor mir selber.
Beim Anblick der Landschaft geht mein Herz auf. Das sind jetzt definitiv
Vulkane!
Queyrières, 285 Einwohner. Auch hier kommen mir ein paar Hunde entgegen.
Ich bin aber fertig mit Hunden für heute, die haben mich vorhin eine halbe
Stunde gekostet. Das entspricht glatt 2 km! Als ihnen ein paar Eisbrocken und
Steine um die Ohren fliegen, gehen sie auf grossen Abstand. Aha, so geht das
hier.
Gusseiserenes Kreuz an der Kirche der Ortes.
Die kleine Kirche in Queyrières ist verschlossen. Ich gehe um die Ecke, und
traue meinen Augen nicht:
Direkt im Ort neben der Kirche eine Basaltorgel!
Eines meiner geologischen Traumobjekte. Perfekt sechseckig-geformte Steine, wie
mit Kleber zusammengefügt. Es ist auskristallisierte Magma, die in einem Krater
erstarrt ist. Der Schlot selbst, aussenrum, wurde durch Erosion abgetragen. Der
Basalt im inneren ist wesentlich härter, und blieb daher stehen.
Ein wunderbares Naturwunder!
Blick zurück auf Queyrières. Neben einer Basaltorgel zu wohnen hat sicher etwas
besonderes. Direkte Polung mit dem Erdinneren.
Dann geht es weiter bergab.
Die üblichen Wegmarkierungen, hier im Doppel. Muschel und GR65-Markiereung.
Es handelt sich hier nicht um ein Bachbett. Das ist eigentlich der
Jakobsweg. Im Tal schmilzt der Schnee. Das Wasser kann im gefrorenen Boden
nicht versickern, und fliesst oberirdisch ab.
Ein weiterer Vulkan. Der Schnee ist in den Tieflagen weitgehend geschmolzen.
Der Schiefer ist ebenfalls vulkanischen Ursprungs. Zwei alte Karren, wie sie
zum Transport der aufgespalteten Steine benutzt wurden, stehen am Wegrand. Die
grossen Räder verhindern, dass die Wagen in jedem kleinen oder mittleren
Schlagloch hängen bleiben.
Vor meinem geistigen Auge sehe ich solche Wagen in der Pestzeit. Eine
verlotterte Person mit zerrissenen Kleidern sammelt Tote damit ein, um sie zu
verscharren. Ich muss wohl irgendwann einmal solche Darstellungen gesehen
haben.
Ein altes Steinkreuz mit einem schlichten Corpus.
St-Julien-Chapteuil, Région Auvergne Département Haute-Loire, 1800
Einwohner, liegt auf 815 Hm.
Schon von weitem sehe ich die imposante Kirche auf einem Vulkankegel. Die
namensgebende Kirche des Ortes, Saint Julien, stammt aus dem 12ten Jhd.
Ein Taufbecken ist sogar aus dem 8ten Jhd, zur Zeit Karls des Grossen.
Ich trinke einen Kaffee, es ist früher Nachmittag. Das ist der Vorteil, wenn
man früh losgeht. Mein rechtes Schienbein schmerzt nun richtig, es ist nicht
der Fuss selbst. Ich überlege, ob ich bleiben soll oder weitergehen. Heute
waren es 18 km, das ist mir eigentlich zu wenig. Ausserdem öffnet der Gite erst
ab vier Personen, steht im Reiseführer. Le-Puy hat sich scheinbar festgebrannt
in meinem Kopf, das letzte Argument nehme ich unkontrolliert an und
entschliesse mich weiterzugehen.
Also los, weitere 18 km stehen auf dem Programm. Zähne zusammenbeissen, wird
schon werden. Vor mir ein paar Häuser und ein grosser Felsblock.
Aus der Nähe sehe ich es dann, noch eine Basaltorgel. Etwas verwittert, aber
trotzdem fantastisch.
Es geht durch eine tiefe Talsenke. Eine Senioren Nordic-Walking Gruppe spornt
mich an zu Höchstleistungen. Sie keuchen und hecheln sich den Anstieg hoch.
Nach 15 Tagen laufen bin ich scheinbar recht fit und fliege förmlich an ihnen
vorbei, trotz des pochenden Schienbeins.
Oben angekommen weite Sicht.
Landwirtschaft wird hier augenscheinlich intensiv betrieben. Das Wasser an dem
Brunnen ist so veralgt und unappetitlich, dass ich es nicht trinke. Das ist
bisher noch nicht vorgekommen auf dieser Tour.
Genügend zu trinken ist schwierig um die Jahreszeit. Viele Brunnen sind
stillgelegt, damit sie nicht einfrieren. Auch das Wasser in meiner
Wasserflasche ist ein paar mal eingefroren. Entweder kamen dann Eisstückchen
oder gar nichts mehr, wenn es durchgefroren war.
Grosse Schlucke zu machen geht sowieso nicht, das Wasser ist viel zu kalt dazu.
Ich muss also Abends viel trinken in der Unterkunft, kann damit aber den
Wasserverlust des Tages kaum ausgleichen.
St-Germain-Laprade, letzte Station vor Le-Puy. 2800 Einwohner.
In der Kirche St-Germain. Das unverputzte Kircheninnere hat einen ganz eigenen
Flair.
Die Kirche hat einen eigenartigen, dachlosen Turm, der eher an einen Wehrturm
als einen Kirchturm erinnert.
Nun geht das Schienbein richtig ab, ich humple mehr als dass ich laufe. Ich
suche eine Unterkunft. Die Gemeindeverwaltung bescheinigt ungerührt, dass es in
diesem Ort mit fast 300o Einwohnern keine Unterkunft gibt, auch nicht privat.
Phew, da habe ich mir was eingebrockt mit den grossen Etappen die letzten Tage.
Zum Glück hat eine Bäckerei offen, die kommt mir jetzt recht. Schokolade soll
ja glücklich machen. Also her mit damit! In einer Viertelstunde jage ich mir
tausende Kalorien Glücksmacher rein.
Und weiter. Der Fuss wird ignoriert, soll er doch machen, was er will.
Knirsch ... soll er doch machen, was er will ...
... und er macht, was er will. Meine Güte!
Montjoie !! Berg der Freude! Der Punkt, an dem man erstmals Le-Puy
sieht.
Vorne im Tal ist das Ziel fast zum Greifen nah. Le-Puy!
Blick zurück. Hinter den Bergen in der letzten Reihe, die kaum zu sehen
ist, bin ich heute morgen gestartet. Ich bin stolz auf mich. Man kann doch
vielmehr leisten, als man erwartet. Wenn mir hier, an dieser Stelle, heute
morgen einer gesagt hätte, ich würde dort ganz hinter den Horizont laufen und
noch weiter -das ist ja erst das Massif du Meygal-, hätte ich ihm wohl nicht
geglaubt.
Aber nicht zu früh freuen, es zieht sich nun noch einige Kilometer. Und nicht
die schönsten Kilometer, so direkt neben der Einfallsstrasse. Auf dem Kegel im
Hintergrund ist die Marienstatue zu sehen, mein Ziel für heute. Und mindestens
morgen.
Eine alte Römerbrücke über die Loire. Scheinbar gab es regelmässig grössere
Hochwasser, es ist viel Platz für Wassermassen gelassen.
Die Brücke hat zugespitzte Pfeiler, um Hochwasser und Eis besser trotzen zu
können. Ob der dadurch entstandene Platz in den Nischen links und rechts auf
der Brücke für Kontrollen, Handel oder schlicht zum Ausweichen benutzt wurde,
weiss ich nicht. Ich sehe das später noch öfter auf Römerbrücken.
Dann ist es soweit. Ich bin in Le-Puy-En-Velay. Der stinkende und
lärmende Verkehr auf den Einfallsstrassen macht mir zu schaffen. Warum laufen
Menschen nicht mehr oder fahren Fahrrad?
Saint-Michel-d'Aiguilhe, ich bin sprachlos.
Die Marienstatue und Saint-Michel-d'Aiguilhe in der Dämmerung. Ich bin
glücklich - und ausgepowert!
Nichts mehr zu sehen von Wegmarkierungen. Habe ich mich verlaufen? Jetzt, am
Ende des langen Tages? Mithilfe einiger Passanten finde ich den Gite, er hat
geöffnet.
Zu müde zum Einkaufen und Kochen esse ich Erdnüsse und lege die Beine hoch.
Schlafen.
Le Puy-en-Velay liegt in der französischen Region Auvergne und ist mit 20.500
Einwohnern (1999) die größte Stadt im Département Haute-Loire.
Blick über die Stadt, die von Hügeln umgeben liegt.
Geplant ist ein Aufenthalt von zwei Tagen. Die beiden Tag liege ich viel auf
dem Bett und lese, um das Schienbein und Fussgelenk ruhigzustellen. Unten in
der Stadt hole ich mir Creme, die aber nicht viel Besserung verschafft. Da sich
das Bein nicht grundlegend bessert, ich vielleicht einen Arzt brauchen werde
und zusätzlich das Wochenende kommt, entschliesse ich mich, noch zwei weitere
Tage in der Stadt zu bleiben. Samstag und Sonntag versuche ich eine gemässigte
Bewegungstherapie, mit Ruhephasen und Cremen. Das Fussgelenk am rechten Fuss
ist geschwollen, ebenso das untere Schienbein. Das Gewebe lässt sich
eindrücken, die Delle geht nur langsam zurück.
In einem Internetcafe finde ich dann Beiträge von Sportlern und Ärzten, die
sich mit diesem Problem beschäftigen. Es ist entweder ein Ermüdungsbruch oder eine Knochenhautentzündung. Das Erste schliesse ich aus, dazu
sind die Schmerzen doch zu knapp, nehme ich an. Es ist dann den Sympthomen nach
eine Knochenhautentzündung, hervorgerufen durch die ungewohnte, langandauernde
Bewegung. Im Verlauf der weiteren Tour treffe ich noch viele Pilger, die mit
diesem Problem zu kämpfen haben, insbesonders nach den ersten Tagen.
Ich hätte die ersten Tage in Frankreich vielleicht etwas
kleinere Etappen machen sollen. Andererseits erlebe ich später auch Pilger, die
kleine Etappen laufen, mit dieser Art von Entzündung. Vielleicht muss man
einfach durch. Auf jeden Fall bringt mich diese Auszeit geistig zur Ruhe, daher
sehe ich diese Ruhetage im Nachhinein als wertvoll an. Schön waren sie auf
jeden Fall.
Am Fuss der Kapelle Saint Michel d'Aiguilhe ist eine kleine oktagonale Kapelle,
die ebenso wie das Haus daneben deutliche architektonische Einflüsse der Mauren
zeigt.
Viele religiöse Darstellungen zieren die historischen Häuser der Altstadt.
Le-Puy war nicht nur regionales Zentrum, als Sammelort der Pilger hatte es
weite Bekanntheit als geistiges Zentrum.
Die Kapelle Saint Michel d'Aiguilhe
Die romanische Kapelle Saint Michel d'Aiguilhe aus dem 10. Jahrhundert befindet
sich auf einer 80 m hohen, steilen vulkanischen Felsnadel.
Der Aufstieg zur Kapelle windet sich in kurzen, steilen Treppen und Aufgängen.
Der Eingang der Kapelle. Ausserordentlich schöne und guterhaltene Figuren und
Darstellungen begrüssen den Besucher.
Deckenfresko in der Kapelle. In der Mitte Jesus, der mit der rechten Hand den
Segen erteilt. Über ihm, hier auf dem Kopf dargestellt, der Erzengel Michael.
Neben ihm zwei Seraphim Engel mit jeweils sechs Flügeln.
Im Neuen Testament besiegt Michael den Teufel in Gestalt eines Drachen und
stößt ihn hinab in die Hölle: "Da entbrannte im Himmel ein Kampf; Michael
und seine Engel erhoben sich, um mit dem Drachen zu kämpfen. Der Drache und
seine Engel kämpften, aber sie konnten sich nicht halten und sie verloren ihren
Platz im Himmel. Er wurde gestürzt, der große Drache, die alte Schlange, die
Teufel oder Satan heißt und die ganze Welt verführt; der Drache wurde auf die
Erde gestürzt und mit ihm wurden seine Engel hinabgeworfen." (Offb 12,7)
In den Ecken sind die Symbole der vier Evangelisten abgebildet. Matthäus
dargestellt durch einen Engel, Markus durch den Löwen, Lukas durch den Stier
und Johannes durch den Adler.
Die Kirche und ihr Umgang nutzen die ovale Form der
Felsnadel vollständig aus, die Säulen stehen in einer Art Halbkreis. Durch den
Bau und die einzigartige Lage ist die Kapelle ein fast irreal wirkender Ort.
Die Kathedrale Notre Dame
Auf dem zentralen Hügel über der Stadt liegt die dreischiffige Cathédrale Notre-Dame
du Puy-en-Velay. Dieses Unesco Weltkulturerbe wurde im 11. und 12. Jhd im
romanischen Stil mit arabischen und byzantinischen Einflüssen erbaut. Das
Portal ist riesig, im Hauptportal ist eine Person mit blauem Mantel als
Grössenvergleich zu sehen.
Blick von der Stadt auf das Portal. Der Kirchturm steht isoliert und ist aus
dieser Position nicht zu sehen. Diesen Weg sind Millionen Pilger in den letzten
tausend Jahren gelaufen, auf dem Weg ins Ungewisse. Etliche sind wohl nicht
mehr zurückgekehrt.
Blick vom Portal der Kathedrale auf die Stadt.
Links neben der Kathedrale ist der Kreuzgang aus dem 12. Jahrhundert.
Der 60 m hohe Kirchturm sieht aus wie aus Klötzen aufeinandergesetzt.
Ansicht von der Seite der Marienstatue.
Die achteckige Kuppel der Kathedrale von aussen.
Die Kuppel von innen.
Die Schwarze Madonna. Die Original-Statue soll vom hl. Ludwig 1254 aus Ägypten
mitgebracht worden und in der Französischen Revolution verbrannt sein. Die
dargestellte Madonna hier ist eine Nachbildung aus dem 19. Jahrhundert.
Ein Statue von St. Jacque in der Kathedrale. An dieser Stelle kann man den
Pilgersegen für einen guten Weg erhalten, ein eindrückliches Erlebnis. Früher
gingen von hier grosse Pilgergruppen gemeinschaftlich los Richtung Santiago, da
sie in der Gruppe sicherer waren vor Überfällen und Übergriffen.
Eine kleine Seitenkapelle ist geheizt, ganz ungewohnt in Frankreich. Hier
finden im Winter die Gottesdienste statt. Nur Sonntags ist im Hauptschiff
selbst die Messe.
In der Seitenkapelle ist ein schönes gotisches Fresko freigelegt.
Die Unterkunft
Die folgenden Bilder zeigen den Gite Maison St-François, der Franziskanerinnen.
Dieser Gite ist ganz in der Nähe der Kathedrale, auf dem Hügel oberhalb der
Stadt. Steile Treppen führen hinauf.
Ich war vier Tage in dieser Unterkunft. Normalerweise ist das nicht erlaubt,
wegen der grossen Zahl an durchströmenden Pilgern. Im Winter ist es recht
ruhig, ich bin sehr froh, nach meiner Ankunft gleich Unterkunft zu finden und
bleiben zu dürfen bis ich mich bzw. das Bein erholt habe.
Neben den Pilgern betreuen die Schwestern auch Sozialfälle in einem Teil des
Gebäudes. Sie versuchen, die Leute in begleiteten Programmen zu
resozialisieren.
Ich erhalte eine kleine (Mönchs?)Zelle und bin begeistert. Ein kleiner Tisch, ein
Stuhl, ein Bett und ein Waschbecken. Mehr braucht man eigentlich auch nicht.
Die dicke Wand schirmt mich ab von der Stadt, ich fühle mich in dem Zimmer sehr
geborgen.
Das Bett, ohne Begrenzung vorne oder hinten, ist ideal bei meiner Grösse. Ich
kann problemlos die Füsse heraushängen oder auf den Stuhl hochlegen.
Das Waschbecken mit den alten Fenstern, zwei hintereinander zur Isolation. Die
Aussenwand ist fast einen Meter dick.
Blick bei Nacht aus meinem Zimmer auf die Statue Notre Dame de France,
welche die Stadt überblickt. Diese Statue wurde aus russischen Kanonen
gegossen, die im Krim-Krieg um 1860 erbeutet worden waren.
Der Blick auf die Statue bei Tag.
Das linke Gebäude ist der Gite, durch die Gasse geht es zur Kathedrale. Das zum
Bau verwendete Basalt-Gestein gefällt mir gut, trotz der Kälte verbreitet es
für mein Gefühl Gemütlichkeit und wirkt sehr wohnlich.
Ausser am ersten Tag bin ich der einzige Pilger im Gite. An dem Tag ist ein
Radpilger da. Er hat zehn Tage Zeit und möchte nach St-Jean-Pied-de-Port, also
an den Fuss der Pyrenäen an der spanischen Grenze. Er möchte ausschliesslich
den GR65 fahren. Ich bin nicht sicher, ob das möglich ist, da der Weg teilweise
für mich als Fussgänger problematisch ist.
Er hat nur 4 kg Gepäck dabei, also nicht viel mehr als was er anhat. Von Beruf
ist er Landwirt, ich glaube er ist der erste Bauer überhaupt, den ich auf einer
Reise treffe.
Er teilt meine Meinung, dass sich die Landwirtschaft in den nächsten
Jahrzehnten stark verändern wird. Sie ist der letzte Erwerbszweig, der vor der
Industrialisierung steht. Wenige Grossbetriebe werden die Landwirtschaft
beherrschen, spezialisiertes Fachpersonal wird die Rolle des im Familienverband
arbeitenden Bauer ersetzen.
Im Gite befindet sich ein Andachtsraum. Der Raum hat eine starke Ausstrahlung,
die Ruhe ist fast greifbar.
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